034-Standzeit

Die Episode

Folge herunterladen

Transkript

Es ist mal wieder Zeit für ein wenig Fertigungstechnik.
Ich möchte mich heute mit der Standzeit von Werkzeugen in der Zerspanung befassen.
Diese Werkzeuge besitzen Schneiden, mit denen das Material abgespant wird.
Wenn eine Schneide im Eingriff ist, sie also aktiv Material abspant, wirken verschiedene Lasten auf sie. Eine Last kann zum Beispiel die Kraft sein, die bei der Verformung des Spans wirkt, oder aber die Reibung beim Abfließen dieses Materials auf der Schneide.
Diese Lasten wirken sich auf den Zustand der Schneide aus. Die Schneide nutzt ab. Dies kann verschiedene Symptome haben, oftmals treten diese auch gleichzeitig auf. Auf diese Symptome, im Fachsprech „Verschleißarten“ genannt, möchte ich heute jedoch nicht im Detail eingehen.
Vielmehr soll es darum gehen, den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem eine kritische Ausprägung dieser Symptome erreicht ist. Weniger geschwollen ausgedrückt: Wann ist die Schneide verschlissen?
Was ist denn Verschleiß überhaupt? Gemeint ist die Abnutzung eines Objektes. Es geht darum, dass sich die Eigenschaften dieses Objektes durch die Nutzung verändern.
Beispiel Fahrradreifen: Wenn ich viel Strecke mit meinem Fahrrad zurückgelegt habe, sehen meine Reifen nicht mehr aus wie neu. Sie könnten an Profil verloren haben und spröde, also brüchig, sein. Die Reifen haben Verschleiß erfahren. Wenn ich der Meinung bin, dass ich die Reifen wechseln muss, weil ich mit ihnen nicht mehr fahren kann, sind die Reifen verschlissen. Sie sind dann nicht mehr für ihren Zweck, das Fahrradfahren, geeignet. In der Fertigungstechnik würde ich davon sprechen, dass die Reifen nicht mehr arbeitsfähig sind.
Von diesem Beispiel kann ich wunderbar Parallelen zur Zerspanung ziehen: Auch meine Schneide legt im Eingriff eine Strecke zurück. Das wirkt sich auf ihren Zustand aus. Sie erfährt Verschleiß – in welcher Form auch immer. Hat sie so viel davon erfahren, dass ich Sie nicht mehr für ihren Zweck, die Bearbeitung eines Werkstückes, einsetzen kann, ist sie verschlissen. Sie ist nicht mehr arbeitsfähig.
Nachdem das geklärt ist, fehlt eigentlich nur noch die Verbindung zum heutigen Titel. Was ist denn nun die Standzeit? Die Standzeit ist die Zeit, die ein Werkzeug im Eingriff verlebt, bis es verschlissen ist. Am Ende der Standzeit eines Werkzeuges muss dieses Werkzeug also ersetzt werden. Die Standzeit besitzt ein großes „T“ als Formelzeichen.
In gängiger Literatur der Zerspanung ist zu lesen, dass die Schnittgeschwindigkeit der technologische Wert mit dem größten Einfluss auf die Standzeit ist. Diese Tatsache wird in der sogenannten Taylor-Gleichung aufgegriffen, die die Berechnung der Standzeit T in Abhängigkeit von der Schnittgeschwindigkeit zum Ziel hat. Diese Gleichung wird als einfache Standzeitfunktion bezeichnet. Die Schnittgeschwindigkeit trägt das Formelzeichen v_c im Sinne der englischen Bezeichnung „cutting velocity“.
Die Funktion der Taylor-Gleichung entspricht einer, jetzt wird es formal, streng monoton fallenden Exponentialfunktion. Die v_c-Werte werden auf der x-Achse eingetragen, während die y-Achse die Werte der Standzeit abbildet. Bei einem geringen v_c-Wert ist die Standzeit relativ hoch, bei einem hohen v_c-Wert ist die Standzeit relativ gering.
Dabei ist eine Sache ganz wichtig: die Standzeitkurve schneidet keine der Achsen! Das ist auch gut so, denn eine negative Schnittgeschwindigkeit zu betrachten ergibt genauso wenig Sinn wie eine negative Standzeit zu berechnen. Ein asymptotisches Verhalten der Standzeitkurve ist bereits eine Vereinfachung der Zusammenhänge. Eine Standzeit, die nahezu unendlich groß wird, ist kein realistisches Szenario.
Um mit diesen Vereinfachungen besser umzugehen, aber auch um den Umgang mit der Funktion generell zu vereinfachen, wird sie üblicherweise in doppelt-logarithmischer Form verwendet. Dadurch ändert sich die Darstellung. Die Kurve entsprich nun annähernd einer Geraden mit negativer Steigung. Aus diesem Kontext stammt auch die Bezeichnung „Standzeitgerade“.
Um das Verschleißverhalten in Abhängigkeit der Schnittgeschwindigkeit zu ermitteln oder die Standzeit praktisch zu berechnen, wird mit dieser Geradenform gearbeitet. Das vereinfacht den Umgang und passt sogar zu dem tatsächlichen Verhalten des realen Systems. Zumindest für einen gewissen Wertebereich der Schnittgeschwindigkeit.
Diesen Wertebereich zu kennen, ist im Umgang mit der Standzeitgeraden essenziell. Außerhalb dieses Wertebereichs ist die Berechnung der Standzeit mit der Formel nicht anzuraten.
Generell ist zu sagen, dass die Betrachtung des Verschleißes mittels Standzeitgeraden eine Vereinfachung ist, die zur Orientierung dient. Viele Vorgänge, die während der Zerspanung stattfinden, werden in dieser Form der Verschleißberechnung nicht betrachtet. Für eine erste Beurteilung des Prozesses ist es aber ein guter Ansatz.
Bis zum nächsten Mal, wenn es wieder heißt: Es ist mal wieder Zeit für ein wenig Fertigungstechnik.

 

geschrieben von David Stachg
eingesprochen von David Stachg