Praxiserfahrung in der Medizin­technik

Eine Sportsverletzung am Knie führte kanadische Studentin, Amy Leson, von einem Bachelorstudium in Maschinenbau zu einem Masterstudium in Medizintechnik an der HAW Hamburg. Und dort entdeckte sie auch, dass mit Kuchen alles besser ist.

Amy Leson ist ein richtiges „Third Culture Kid", wie sie sich selber nennt. Sie wurde in Calgary in Kanada geboren und zog mit ihrer Familie im Alter von drei Jahren nach Indonesien, wo sie die nächsten 8 Jahre ihrer Kindheit verbrachte. Darauf folgten fünf Jahre in Texas, bevor die Familie schließlich 2007 nach Kanada zurückkehrte. Dort absolvierte sie ihr Bachelorstudium in Maschinenbau an der University of British Columbia (UBC) in Vancouver. Die 26-jährige Amy befindet sich derzeit im dritten Semester ihres Masterstudiums in Biomedical Engineering an der HAW Hamburg und absolviert zur Vorbereitung auf ihre Masterarbeit ein Praktikum im Bereich Bio-Nanosensoren.

Wie ein Unfall das Interesse für Medizintechnik weckt

Amy hat ihre Liebe zur Mathematik von ihrem Vater geerbt und von ihrer Mutter die Lust am künstlerischen und kreativen Schaffen. Während ihres Maschinenbaustudiums konnte sie beide Talente nutzen. „Im zweiten Studienjahr entwarfen und bauten wir ein Luftkissenfahrzeug. Da gehörte zwar sehr viel Mathematik dazu“, sagt sie lachend, „aber es war ziemlich cool, Teil eines kreativen, praxisnahen Projekts zu sein.“ Während des Studiums an der UBC zog sie sich beim Sport eine Knieverletzung zu und das gab ihr den Anstoß, sich Gedanken über den Weg zu machen, den sie in ihrer Ingenieurskarriere einschlagen wollte. „Ich hatte einen Kreuzbandriss, und um wieder auf die Beine zu kommen, musste ich monatelange eine Knieorthese tragen und Reha machen. Diese Erfahrung weckte mein Interesse für die Prävention von Verletzungen und Krankheiten“, erklärt sie. „Es hat mir gezeigt, was für eine eindrucksvolle Maschine der Körper ist und das hat mich fasziniert.“ So wählte sie im Rahmen ihres Bachelorstudiums Medizintechnik als Schwerpunkt, um dieses Interesse weiter zu vertiefen.

Wie Praktika zu Lernerfolgen führen

Das fünfjährige Studium im dualen System erlaubte es Amy, ihre Kenntnisse in Medizintechnik durch studienbegleitende Praktika in Industriebetrieben auszubauen. Sie arbeitete vier Monate für ein Unternehmen, das Hirn-Stents fertigt, und acht Monate für eine Firma, die Herzklappen herstellt. Außerdem kombinierte sie ihre Leidenschaft für Fahrräder mit einem zusätzlichen viermonatigen Praktikum bei einem Unternehmen, das Fahrradanhänger für Kinder produziert, wobei sie sich mit Sicherheitsstandards und Testmethoden beschäftigte. „Die Praktika haben mir gezeigt, wie wichtig es ist, das Lernen zu lernen. Die Medizintechnik ist ein so weites Feld. Es ist wichtig zu wissen, wie man sich selbst etwas beibringen kann, aber auch zu erkennen, was man nicht weiß, damit man sich weiterentwickeln kann.“

Sie nahm zudem an einem extracurricularen internationalen Studentenwettbewerb teil, bei dem ihr Team autonome Fußball spielende Roboter baute. „Die Projekttechnologie stellte eine wertvolle Verbindung zu medizinischen Aspekten her, da Künstliche Intelligenz in der Zukunft der medizintechnischen Industrie eine immer größere Rolle spielen wird“, erklärt sie. „Und ich hatte meinen ersten Kontakt mit Deutschen!“ erinnert sie sich lächelnd. „Wir traten gegen Teams aus anderen Ländern an, und wir hatten viel Spaß mit den deutschen Studierenden und haben viel von ihnen gelernt.“

Als ich anfing, Deutschland als eine Option fürs Studium zu betrachten, war ich überrascht zu sehen, dass viele Masterstudiengänge hier viel projektbezogener und praktischer sind.

Wie die Liebe nach Deutschland führt

Wir als Hochschule bilden uns gerne ein, dass es unsere großartigen Marketingkampagnen sind, die Studierende nach Hamburg bringen, aber in Wirklichkeit ist es oft eine „bessere Hälfte". Während des Bachelorstudiums lernte Amy Michael kennen, einen deutschen Masterstudenten an der UBC, und er ist einer der Gründe, warum Amy sich für ein Studium in Deutschland entschied. Aber eben nur einer der Gründe. Bei der Suche nach Jobs in der medizintechnischen Industrie in Kanada wurde Amy schnell klar, dass man ohne Master-Titel in Medizintechnik nicht weit kommt. Das Problem war nur, dass sie daran eigentlich nicht interessiert war. „Ich hatte immer gesagt, dass ich keinen Master-Abschluss machen will, weil die Master-Programme in Kanada sehr forschungsorientiert sind und man zwei Jahre in einem Labor verbringt. Ich wusste, dass das nicht mein Ding ist. Aber als ich anfing, Deutschland als Option zu betrachten, war ich überrascht zu sehen, dass viele Masterstudiengänge hier viel projektbezogener und praktischer sind“, sagt sie. Sie bewarb sich und wurde an verschiedenen Hochschulen zugelassen, doch ihr Freund in Heidelberg riet ihr, Hamburg zu wählen. „Er meinte, dass in Deutschland alle nach Hamburg wollen“, erklärt sie lachend. „Und er hatte Recht. Hamburg ist wunderschön!“ 

Wie die Theorie sich mit der Industrie verbindet

Zwei Semester sind inzwischen vergangen, und Amy hat sie als „vollgepackt mit sieben Modulen pro Semester“ in Erinnerung. Sie beschreibt das Studium an der HAW Hamburg als projektorientiert mit den Schwerpunkten Programmieren und Elektronik. Dies war eine willkommene Ergänzung zu ihrem Background in Maschinenbau. Ihr gefällt es, dass sie eine kleine Gruppe von Studierenden sind und es fiel ihr leicht, mit den anderen deutschen und internationalen Studierenden Kontakte zu knüpfen. „Im Rückblick merkt man, wie viel wir in zwei Semestern gemacht haben. Dabei ging es vor allem um teambasiertes Lernen, also darum zu lernen, wie man mit anderen Studierenden zusammenarbeitet. Außerdem hatten wir die Gelegenheit, mit Dozenten an Forschungsprojekten zu arbeiten, und im Rahmen eines Projekts, an dem ich mit Professor Tolg gearbeitet habe, wurden kürzlich zwei Arbeiten veröffentlicht und auf einer Konferenz vorgestellt.“ Einer ihrer Lieblingskurse war der von Professor Lichtenberg, in dem sie sich mit der Analyse von Fachzeitschriften und Forschungsarbeiten befasste und praxisorientierte Projekte mit MATLAB durchführte.

Aber für Amy kommt das Beste erst noch: „Für mich war es ein Riesending, dass ich meine Masterarbeit in der Industrie machen kann", sagt sie lächelnd. Zur Vorbereitung ihrer Abschlussarbeit absolviert Amy ein Praktikum bei Biomed X in Heidelberg, wo sie an MATLAB-Projekten beteiligt ist. Ihre Aufgaben umfassen das Programmieren für die Datenanalyse und die Arbeit mit Auto-CAD für den Bereich der Bio-Nanosensoren. Biomed X ist ein Forschungszentrum, das mit der Industrie zusammenarbeitet und deren Forschungsbedarf anspricht. „Es ist großartig zu sehen, wie Industrie und Forschung in einer Weise zusammenwirken, die den Menschen zugutekommt.“ Mit ihrem Projektbetreuer sucht sie ein Thema für ihre Masterarbeit und nutzt die Zeit bei Biomed X, um Kontakte zur Industrie für die Zeit nach dem Studium zu knüpfen.

Wie mit Kuchen alles besser ist

Im Rückblick sieht sie, wie sich die Dinge zusammengefügt haben. Wie eine Verletzung und Praktika ihr Interesse für Medizintechnik weckten, wie Kontakte zu Ausländern in der Heimat zu einer neuen Zukunft in der Ferne führten und wie ein Master-Abschluss in Hamburg das Bindeglied zur medizintechnischen Industrie in Deutschland darstellt. Sie führt ihren Erfolg auf die Art und Weise zurück, wie sie sich auf ihr Ziel konzentriert, Ingenieurin für Medizintechnik zu werden, auf ihre Begeisterung, neue Dinge auszuprobieren, und auf ihre Bereitschaft, ihre Komfortzone zu verlassen. Sie glaubt, dass dies alles wichtige Voraussetzungen sind, um eine gute Ingenieurin zu werden. Amy hatte außerdem das Glück, weibliche Vorbilder zu besitzen, die sie unterstützt und ermutigt haben. Ihre Mitbewohnerin und enge Freundin Andrea Palmer studierte mit ihr an der UBC, und sie unterstützten sich gegenseitig bei den vielen schwierigen Entscheidungen während ihres Bachelorstudiums. Und auch ihre Dozentin Elizabeth Croft half ihr in vielerlei Hinsicht. „Sie reißt auf allen Ebenen Barrieren ein und war immer eine große Unterstützung“, sagt Amy. „Außerdem ist sie führend an der Kampagne der UBC beteiligt, die darauf abzielt, Ingenieurwissenschaften für Studentinnen zugänglicher zu machen.“

Bevor Amy nach Hamburg kam, konnte sie überhaupt kein Deutsch. Doch mittlerweile hat sie das Niveau B1 erreicht. „Dienstag bis Donnerstag sind Deutsch-Tage“, erklärt sie ihre Methode zum Erlernen der Sprache. „Meine Kommilitonen, meine Mitbewohner und mein Freund ziehen alle an einem Strang, um mir zu helfen. Das ist eine richtige Mannschaftsleistung.“ Der Umzug von Kanada nach Deutschland war kein allzu großer Kulturschock, obwohl sie in Hamburg die Berge vermisst – und Ketchup-Chips! Wenn sie ganz ehrlich ist, dann könnten die Deutschen an ihren Fähigkeiten (oder deren Mangel) beim Small Talk arbeiten, aber mit ihren leckeren Kuchen machen sie alles wieder wett. „Kuchen“, ruft sie strahlend aus. „Deutsche Kuchen sind fantastisch!“

 

iw/November 2017