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Ringvorlesung MIGRATION MACHT GESELLSCHAFT

Warum die aktuellen Krisen Ungleichheiten verstärken

Die diesjährige Ringvorlesung MIGRATION MACHT GESELLSCHAFT trägt den Titel: "Mobilität und coronabedingte (Un)Gleichheit – eine postpandemische Lektüre“ (19. April bis 14. Juli 2022). Aus wissenschaftlicher Sicht wird das Thema Ungleichheit in der Migrationsgesellschaft in Zeiten der Pandemie und der neuen Fluchtbewegung aus der Ukraine beleuchtet. Wir haben die Organisatoren, Prof. Dr. Louis Henri Seukwa und Dr. Elina Marmer, nach ihrer Herangehensweise und der Auswahl der Vorträge gefragt.

HAW Hamburg, Fakultät W&S, Department Soziale Arbeit, Professor Louis Henri Seukwa, Professor für Erziehungswissenschaften, Fotografiert am Berliner Tor 5 am 22.6.2020

Prof. Dr. Louis Henri Seukwa, Professor für Erziehungswissenschaften am Department Soziale Arbeit und Migrationsforscher.

Die Vorträge der Ringvorlesung thematisieren auf der einen Seite die vielfältigen Auswirkungen der Pandemie auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Migration. Dabei beziehen sich die Vortragenden auf die transnationale Mobilität, wie zum Beispiel bei Reiserückkehrer*innen und bei Einwanderung insgesamt, sowie auf die Verschärfung von ungleichen Chancen am gesellschaftlichen Leben. Damit ist sowohl die Teilhabe auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, in der Bildung in Schulen und wissenschaftlichen Einrichtungen sowie im Alltag gemeint. Auf der anderen Seite greift die Ringvorlesung die aktuellen Ereignisse aus dem Ukraine-Konflikt auf. Diese beiden Aspekte stehen unter der Annahme, dass Rassismus durch Krisen gepusht wird.

Herr Seukwa, in der Ankündigung der Ringvorlesung schreiben Sie, die Pandemie wirke wie ein Brennglas für die bereits bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten. Können Sie erklären, was Sie damit meinen?

Prof. Dr. Louis Henri Seukwa: Krisenzeiten gehen mit gesellschaftlichen Verunsicherungen einher – wir besinnen uns darauf, was uns Halt und Sicherheit vermittelt. Das können Zeichen von Solidarität sein, aber auch die eines schamlosen Egoismus. Diejenigen, die schon immer privilegiert waren, können sich vor größeren Schäden ohne weiteres schützen, beziehungsweise sogar noch von der Krise profitieren. Wer aber sich in einer bis dato prekären Lage befindet, ist der Krise schonungslos ausgeliefert. Das trifft überproportional Menschen, die schon zuvor rassistisch diskriminiert und an gesellschaftlicher Teilhabe gehindert wurden – das sind einerseits Migrant*innen aus nicht-westlichen Ländern, sowie alle rassifizierten Menschen in Deutschland, denen ein sogenannter „Migrationshintergrund“ von der weißen Dominanzgesellschaft zugeschrieben wird. Dabei ist nicht die eigentliche Migration das Problem, sondern die Zuschreibungen und Diskriminierungen, die nicht-weiße Menschen in Deutschland erleben.

Sie sprechen im Titel der Ringvorlesung von einer „postpandemischen Lektüre“. Was meinen Sie mit diesem Begriff? 

Dr. Elina Marmer: Mit „post“ meinen wir nicht, dass die Pandemie vorbei ist, denn das ist sie offensichtlich noch nicht. „Post“ bedeutet, dass wir die Pandemie als ein Ereignis verstehen, welches unsere Gesellschaft auch langfristig verändern und uns daher noch lange Zeit beschäftigen wird. Wir möchten also bereits jetzt, wo wir noch mittendrin stecken, uns Gedanken über diese gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen machen, denn es ist unserer Meinung nach nie zu früh, sich damit zu befassen.

Die Geschichte der Pandemien ist auch eine der Ungleichheit, Diskriminierung und Dehumanisierung. Welche überholten Muster oder Mythen werden dabei aktiviert?

Elina Marmer: In der Kolonialzeit wurden Pandemien durch Verbreitung von Erregern – Pocken, Grippe, Masern, Cholera – durch europäische Besatzer*innen beispielsweise bei der immunologisch ungeschützten Bevölkerung Amerikas ausgelöst und führten zu ihrer Vernichtung. Epidemien wie die Schlafkrankheit wurden durch die extreme Schwächung durch Zwangsarbeit in afrikanischen Kolonien ausgelöst. Auch die Impfstoffentwicklung ist wegen der Experimente an marginalisierten Gruppen und Menschen im Globalen Süden durch eine grausame Seite gekennzeichnet. Zudem wird historisch wie in der Gegenwart in Krisensituationen stets nach Schuldigen gesucht. Die hervorgerufene Unsicherheit und Angst werden in Entmenschlichung und Hass kanalisiert, und zwar denjenigen gegenüber, die sich ohnehin am gesellschaftlichen Rand befinden. In Europa wird zum Beispiel seit vielen Jahrhunderten die jüdische Bevölkerung für Pandemien wie auch für alle anderen Krisen verantwortlich gemacht. Das spiegelt sich in den zahlreichen Corona-Verschwörungsmythen wider. Neu ist bei Corona, dass auch antiasiatischer Rassismus einen Höhepunkt erlebt.

Flüchtende wurden während des Lockdowns anders behandelt. Das haben zum Beispiel die streng bewachten Flüchtlingslager in Griechenland gezeigt. Welche Effekte hat dies auf die allgemeine Flüchtlingspolitik?

Louis Henri Seukwa: Menschen, die in Lagern und Sammelunterkünften leben, können sich weder isolieren noch schützen, sie sind der Pandemie ausgeliefert. Anstatt diese Menschen als vulnerabel und schützenswert zu erklären, werden sie als eine Gefahr inszeniert. Die ohnehin restriktive und rassistische Einwanderungspolitik nutzt dies, um Flucht oder Migration noch mehr zu verunmöglichen als es bereits der Fall ist, mit dem Vorwand, die so genannte „einheimische“ Bevölkerung zu schützen. Solche nationalistischen Bedrohungsszenarien existierten bereits vor der Pandemie. Jetzt wird die Angst vor der Ansteckung dafür instrumentalisiert. Ein weiterer Effekt ist, dass die Berichterstattung über das Schicksal der Menschen beispielsweise in Moria zugunsten von Corona und den Auswirkungen auf die „Einheimischen“ aus den Medien fast verschwunden ist.

Welche Rolle spielen die Medien? Werden Migrant*innen als Treiber der Krise wahrgenommen?

Louis Henri Seukwa: In unterschiedlichen Medien kursieren ständig alle möglichen Gerüchte, die dieses rassistische Denken bedienen. Dabei wird mit zweierlei Maß gemessen: Einerseits geht es um die transnationale Mobilität, die als gefährlich wahrgenommen wird. Wie bereits erwähnt, wird die Einwanderung als solche als eine Bedrohung wahrgenommen. Dass weiße Deutsche aber nicht mehr wie gewohnt durch die Welt reisen können, wird als eine massive Freiheitseinschränkung bedauert.

In den Medien ist zum Beispiel immer wieder von sogenannten Heimaturlauber*innen die Rede, die die Pandemie nach Deutschland bringen würden, als ob es dem Virus nicht egal wäre, ob Menschen Pauschaltourismus machen oder Verwandte besuchen. Interessant dabei finde ich, wie Kulturalisierungen sich wandeln. Noch nicht so lange her wurde die als muslimisch gesehenen Migrant*innen vorgeworfen, sie würden sich verschleiern und den Händeschlag verweigern, was mit der so genannten „deutschen Leitkultur“ als unvereinbar galt. Von heute auf morgen ist „Vermummen“ gesellschaftsfähig und sogar verpflichtend, und der Händeschlag wird zum Tabu. Die „deutsche Leitkultur“ scheint also flexibler zu sein, als sie es von sich geglaubt hat. Die vorpandemischen Erzählungen sind schnell vergessen, dafür machen neue Kulturalisierungen die Runde – zum Beispiel sorgloser Umgang mit Pandemiebekämpfungsmaßnahmen in migrantischen Milieus, festgemacht an Gerüchten über zum Beispiel große Hochzeiten oder Impfunwilligkeit.

Unterbezahlte Arbeitnehmer*innen vor allem aus dem Osten Europas konnten durch Corona-Ausbrüche beispielsweise in Schlachthöfen auf ihre prekäre Arbeitssituation aufmerksam machen. Hat Corona hier sogar „geholfen“?

Elina Marmer: Da durch die Pandemie die Ungleichheiten verstärkt werden, ist es manchmal einfacher, diese zu skandalisieren. Das kann zu gesellschaftlichen Veränderungen führen, muss es aber nicht. Es gab große Schlagzeilen, aber die Frage ist, ob sich die Situation tatsächlich gebessert hat? Das gilt es zu untersuchen.

Wie hat sich die Corona-Situation von Studierenden mit Fluchthintergrund auf den Studienalltag ausgewirkt?

Louis Henri Seukwa: Wir bekommen mit, dass das Online-Studium geflüchtete Studierende vor große Herausforderungen stellt, sei es, weil sie aufgrund ihrer finanziellen Lage nicht über die notwendige technische und logistische Ausstattung verfügen, oder auch durch Isolation und Vereinsamung, da das soziale Campusleben praktisch weggefallen ist. Es gibt jedoch unseres Erachtens noch keine systematische wissenschaftliche Untersuchung darüber bezogen auf diese Zielgruppe. Auch deshalb wollen wir die studentischen Perspektiven im Rahmen der Ringvorlesung am 7. Juni zum Thema machen. Dabei interessieren uns nicht nur die Hürden, sondern auch die möglichen Chancen, die das Online-Studium mit sich gebracht hat, um daraus als Hochschule für die Zukunft lernen zu können. Wir sind darauf gespannt.

Lieber Herr Prof. Seukwa, liebe Frau Dr. Marmer, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Interview: Katharina Jeorgakopulos

Hier geht es zum Programm:

Die Ringvorlesung findet vom 19. April bis 14. Juli 2022 weitestgehend in Präsenz statt und wird organisiert vom Department Soziale Arbeit an der Fakultät Wirtschaft & Soziales und der Arbeitsstelle Migration der HAW Hamburg.

https://www.haw-hamburg.de/detail/news/news/show/mobilitaet-und-coronabedingte-ungleichheit-eine-postpandemische-lektuere/

Plakat der Ringvorlesung

Kontakt

HAW Hamburg
Arbeitsstelle Migration
Prof. Dr. Louis Henri Seukwa
Dr. Elina Marmer
migration (at) haw-hamburg (dot) de
 

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