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Für einen Aktionsplan zum Erkennen von Gewalt

Jede Dritte

Gewalt hat in unserer Gesellschaft nach wie vor viele Gesichter. Um auf dieses sensible Thema aufmerksam zu machen, veranstalten an der HAW Hamburg die Stabsstelle Gleichstellung zusammen mit den Gleichstellungsbeauftragten und dem Queer-Referat des Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA) vom 16.11.2020 bis 27.11.2020 die Wochen gegen geschlechtsbasierte Gewalt.

Hörsaal, in dem an einigen Sitzen Plakate zum Thema Gewalt gegen Frauen hängen

Jede dritte Frau in Deutschland ist von Gewalt betroffen - die Aktionswochen an der HAW Hamburg machen auf dieses Thema aufmerksam.

Im Rahmen der Aktionswochen gegen geschlechtsbasierte Gewalt hat Prof. Dr. Sabine Stövesand aktuelle Formen, Ursachen und Lösungen gegen geschlechtsbasierte Gewalt dargestellt.  Prof. Dr. Sabine Stövesand ist Professorin für Soziale Arbeit an der Fakultät Wirtschaft und Soziales der HAW Hamburg und Gründerin des Projekts „StoP: Stadtteile ohne Partnergewalt“.

Jede dritte Frau erlebt in Deutschland Gewalt – woran liegt das?

Ja, die Gewalt ist weit verbreitet. Fast jeden Tag findet ein Mordversuch an einer Frau statt, in der Regel durch ihren (Ex-) Partner, jeden zweiten bis dritten Tag wird eine Frau getötet, jede siebte Frau wurde vergewaltigt. Von daher ist „erleben“ nicht der passende Begriff, sondern „Betroffenheit“.

Was sind die Hauptursachen für Gewalt?

Es gibt nicht die eine Ursache, sondern es ist ein Geflecht aus institutionell in der Gesellschaft sowie individuell in den Einzelnen verankerten Geschlechtervorstellungen und Verhaltensweisen. Diese sind binär, heteronormativ und hierarchisch geprägt. Dazu kommen geschlechtsbezogene Ungleichheiten in der Einkommensverteilung, Arbeitsverteilung, Verteilung von Machtressourcen und der Selbstbestimmung.

Wichtig ist, dass Frauen im Gegensatz zu Männern, überwiegend in Beziehungen, Partnerschaften oder im sozialen Nahraum von Gewalt betroffen sind. Bei den Gewaltausübenden handelt es sich je nach Gewaltform bis zu 99 Prozent um Männer. Das wiederum haben weibliche mit männlichen Gewaltbetroffenen gemeinsam (s. BKA 2019).

Es gibt nicht die eine Ursache für Gewalt, sondern es ist ein Geflecht aus institutionell in der Gesellschaft sowie individuell in den Einzelnen verankerten Geschlechtervorstellungen und Verhaltensweisen.

Prof. Dr. Sabine Stövesand

Was braucht es damit sich die hohe Zahl an Gewalttaten an Frauen verringert?

Da die Ursachen auf unterschiedlichen Ebenen liegen, braucht es entsprechende Maßnahmen. Ich stelle mir das als Zirkel vor: Die Veränderung individueller Verhaltensweisen wird nicht gelingen, wenn die medial und kulturell vermittelten Geschlechterstereotype bestehen bleiben. Und diese ändern sich nicht, wenn sich die Sorge-Arbeit nicht anders verteilt und der Arbeitsmarkt weiterhin geschlechtlich gespalten bleibt Das meint eine schlechtere Bezahlung von den als weiblich geltenden Berufen. Und dies wird sich wiederum nicht ändern, wenn Frauen beziehungsweise Feminist*innen nicht über mehr Einfluss in Politik, Medien und Ökonomie verfügen.

Was können wir an der Hochschule und in unserem privaten Umfeld tun, um uns gegen geschlechtsbasierte Gewalt einzusetzen?

An der Hochschule müssten Lehrinhalte, Lehrmaterialien sowie Stellen- und Ressourcenverteilungen auf Genderkompetenz und Gendergerechtigkeit hin ausgelegt sein. Dafür braucht es Bewusstsein und Anreize. Es braucht einen Aktionsplan und praktische Informationen zum Erkennen dieser Gewalt und zum Umgang mit ihr.

Dazu braucht Enttabuisierung, das heißt das bewusste Schaffen von Öffentlichkeiten und Gespräch. Und dies in einer Art und Weise, die unterschiedliche Medien und Ansprachen so nutzt, dass deutlich wird, um was es geht: um einen respektvollen und erfreulichen Umgang miteinander, um Angstfreiheit und liebevolle Beziehungen, um einen zentralen Aspekt gelebter Demokratie.

Warum ist Gewalt an Frauen bis heute ein Tabu?

In der Generation meiner Mutter war es für Frauen normal, sich unterzuordnen, das gehörte sich so. Dazu kommen Scham, Angst vor der Reaktion des Mannes oder der Verwandtschaft. Probleme in der Beziehung fielen ja meistens auf die Frauen zurück. Schließlich waren sie es, die zuständig für Liebe und Beziehung waren. Heute sprechen junge Frauen beispielsweise nicht über Gewalt, weil sie dann nicht mehr „cool“ sind, und weil es nicht passt, Opfer zu sein. Das gehört nicht zum Selbstbild und wird gesellschaftlich eher diffamiert. „Selbst schuld“, schließlich haben wir doch Gleichberechtigung… Die anderen Gründe bestehen parallel teilweise weiter.

Wie kommt es, dass trans* Frauen und Frauen of Color einem besonders hohen Maß an körperlicher Gewalt ausgesetzt sind?

Auch hier gibt es vielschichtige Gründe, unter anderem wird trans* als expliziter Verstoß gegen die etablierte, heteronormative Geschlechterbinarität verstanden, die von vielen immer noch als „natürlich“ empfunden wird. Abweichungen, Infragestellungen, Veränderungen werden bestraft. Rassismus spielt im zweiten Fall eine entscheidende Rolle. Dazu gehören „Machtmangel“ und Unterprivilegierung. Hinzu kommen dann all die genannten Gründe für Gewalt gegen Frauen.

Begriffserklärungen

trans*: Als trans* bezeichnen sich Personen, die sich nicht oder kaum mit ihrem Geburtsgeschlecht identifizieren. Das Adjektiv trans* steht auch als Abkürzung für u.a. trans* gender oder trans* geschlechtlich.

Frauen of colour: Der englische Begriff People of Color (PoC) ist eine politische Selbstbezeichnung von Menschen, die Rassismus erfahren. Er wurde als Reaktion auf rassistische Fremdbezeichnungen entwickelt. Den Begriff PoC verwenden Menschen mit verschiedenen Selbstverortungen, z.B.: Schwarze Menschen, Roma*nja, Sinte*zza oder Asiatische Deutsche.

Heteronormativität: Eine heteronormative Weltanschauung bzw. gesellschaftliches Wertesystem erkennt nur zwei Geschlechter (männlich und weiblich) und heterosexuelle Beziehungen (ein Mann und eine Frau) zwischen diesen Geschlechtern an. Menschen, die nicht in diese zweigeschlechtliche Ordnung passen, weil sie sich beispielsweise als non-binary, trans* oder inter* identifizieren, werden als „anders“ und „nicht normal“ wahrgenommen.

Geschlechtersterotype: Bestimmte Verhaltensweisen, gesellschaftliche Rollen, Berufe etc. werden/wurden für ein bestimmtes Geschlecht als typisch oder akzeptabel angesehen.

Interview: Lynn Mecheril, Projektmitarbeiterin für Antidiskriminierung und Diversity

Anmerkung: Der Begriff „Frau“ wird nicht im essentialisierenden Sinn verwendet, sondern hier ist immer auch eine soziale Konstruktion gemeint.

Kontakt

Stabsstelle Gleichstellung
Berliner Tor 5
20099 Hamburg
gleichstellung_zentral (at) haw-hamburg (dot) de

Beratungsstellen in Fällen von Belästigung, Diskriminierung und Gewalt

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