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BMBF-Studie

Wie geht es der Nordsee?

Schadstoffe gelangen über Flüsse, die Atmosphäre und durch direkte Quellen in die Nordsee. Rund 90 verschiedene Schadstoffe konnten Wissenschaftler*innen in den Sedimenten nachweisen. Ein mannigfaltiger Chemiecocktail belastet das Ökosystem der Nordsee seit den letzten 100 Jahren und dieser wird nur langsam abgebaut.

Prof. Dr. habil. Gesine Witt bei einer Analyse einer Probe

Prof. Dr. habil. Gesine Witt bei der Analyse einer Probe. Im Hintergrund die wissenschaftliche Mitarbeiterin Nora Niehus.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hatte die zugrundeliegende Studie NOAH (2013-2019) gefördert. Die Ergebnisse der daran anschließenden zweiten Studie „NOAH – Synthesis“ wurden gerade im Fachjournal Environmental Pollution veröffentlicht. Wir haben Prof. Dr. habil. Gesine Witt vom Department Umwelttechnik der HAW Hamburg dazu befragt. Sie betreute im Rahmen der Studie NOAH eine Doktorarbeit und leitete das Teilprojekt „NOAH – Synthesis für die Sedimentanalytik“. 

Dabei gibt es gute und schlechte Nachrichten: Chemische Rückstände und gefährliche Ablagerungen, die schon vor langer Zeit in die Nordsee eingebracht wurden – zum Beispiel durch die industrielle Revolution – konnten durch strenge Umweltauflagen und Verbote abgebaut werden. Anders sieht es bei jüngeren Sedimentschichten aus. Hier wurden vermehrt eingebrachte chemische Schadstoffe der letzten Jahre nachgewiesen. Ein Rückgang der Belastung des Nordseebodens, so das Fazit der Forschenden, erfolgt durch Auflagen und Verbote also erst nach Jahrzehnten. Wir haben mit einer der Projektleiter*innen, Prof. Dr. habil. Gesine Witt vom Department Umwelttechnik der HAW Hamburg gesprochen und uns die Analyse sowie die Zusammenhänge erklären lassen. Sie betreute im Rahmen des NOAH Projekts eine Doktorarbeit. Das von ihr geleitete Teilprojekt „NOAH  – Synthesis für die Sedimentanalytik“ entwickelte neue Methoden für ein effizienteres und kostengünstigeres Umwelt-Monitoring.

Liebe Frau Prof. Witt, insgesamt ging die Belastung des Nordseebodens mit Schadstoffen in den letzten 100 Jahren zurück. Jedoch verursacht menschliches Handeln die Ablagerung neuer Schadstoffgruppen. Warum mangelt es immer noch an Regulierungen oder einzuhaltenden Grenzwerten?
Prof. Dr. habil. Gesine Witt: Forschende müssen bei jedem neuen Umweltschadstoff erst nachweisen, dass es sich tatsächlich um schädliche Substanzen handelt. Diese Erfahrung habe ich in den 30 Jahren, die ich bereits in der Umweltforschung tätig bin, gemacht. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich immer um einen Cocktail aus Chemikalien handelt, die sich gegenseitig beeinflussen und die toxischen Wirkungen oftmals verstärken. Es sind viele chemische und toxikologische Untersuchungen erforderlich, bevor es zu Regulierungen kommt. Monitoring Programme sollen die Umwelt überwachen, aber wenn diese greifen, sind die Schäden häufig bereits entstanden. Aus meiner Sicht wäre es besser, konsequent das Vorsorgeprinzip anzuwenden, um zu verhindern, dass Gefahren für die Umwelt überhaupt erst entstehen. Man sollte frühzeitig und vorausschauend handeln und den Eintrag von Stoffen verbieten, die nur im Verdacht stehen, die Umwelt zu schädigen.

Die neueren Schadstoffe bezeichnet man als sogenannte PBT-Stoffe. Worum handelt es sich bei den neuen Ablagerungen und was bedeuten sie für Mensch und Umwelt?
Gesine Witt: Auch bei den bereits verbotenen Stoffen handelt es sich vorrangig um PBT Stoffe. Das P steht für Persistenz, was bedeutet, dass diese Stoffe besonders langlebig sind und schwer in der Umwelt abgebaut werden. Das B steht für Bioakkumulation, was bedeutet, dass sich diese Substanzen in der Nahrungskette anreichern. Kommt noch hinzu, dass die Stoffe toxisch wirken – T steht für Toxizität – haben wir es mit besonders gefährlich Stoffen für Mensch und Umwelt zu tun. Die Stoffe reichern sich über die Nahrungskette auch in Menschen und Tieren an, beispielsweise wenn wir Fische verzehren. Im Körper des Menschen können diese Stoffe nur sehr langsam abgebaut werden, sie reichern sich also weiter an, bis sie eine schädigende Wirkung erreichen. Einige der Stoffe wirken krebserregend, andere erbgutschädigend oder haben hormonellen Einfluss.

Im Rahmen der Studie wurden Sedimentkerne aus dem Skagerrak, einem Nordseeabschnitt zwischen den Küsten von Dänemark, Schweden und Norwegen, chemischen Analysen unterzogen. Was genau war hierbei Ihre Rolle, wie waren Sie bei der Analyse eingebunden?
Gesine Witt: Wir haben in diesem Forschungsprojekt die organischen Schadstoffe im Porenwasser der Sedimentkerne untersucht. Als Porenwasser wird in den Geowissenschaften jener Wasseranteil bezeichnet, der in feinen Hohlräumen des Bodens und des Sediments enthalten ist. Also das Wasser, das beispielsweise das Watt so matschig macht. Die Schadstoffe sind sowohl an die Sedimentpartikel gebunden wie auch im Porenwasser gelöst. Da die gelösten Schadstoffe biologisch verfügbar sind, also von den im Sediment lebenden Organismen über die Hautoberfläche aufgenommen werden, haben wir neue analytische Methoden entwickelt, um diese Stoffe auch im Porenwasser messen zu können. Außerdem habe ich im Rahmen des NOAH Projekts zu diesem Thema die Doktorarbeit von Mathias Reininghaus betreut. 

Aus meiner Sicht wäre es besser, konsequent das Vorsorgeprinzip anzuwenden, um zu verhindern, dass Gefahren für die Umwelt überhaupt erst entstehen.

Prof. Dr. habil. Gesine Witt Professorin für Umweltchemie und Toxikologie an der Fakultät Life Sciences

Sedimente werden als Gedächtnis eines Gewässers bezeichnet, denn die Belastungssituation verschiedener Zeiten spiegelt sich in den abgelagerten Schichten wider. Warum kommt es zu dieser starken Anreicherung von schadstoffbehafteten Sedimenten?
Gesine Witt: Die Halbwertszeit der untersuchten Schadstoffe, also die Zeit bis die Hälfte der Chemikalie abgebaut ist, liegt bei einigen der organischen Substanzen bei über 100 Jahren. Schwermetalle, wie anorganisches Arsen oder Blei, können, wenn sie einmal in die Umwelt gelangt sind, gar nicht abgebaut werden. Untersucht man die Tiefenprofile der Sedimentkerne, kann man erkennen, seit wann diese Stoffe eingesetzt werden.

In den Laboren der Projektpartner wurden rund 90 verschiedene Schadstoffe in den verschiedenen Sedimentschichten ermittelt. Erschreckend dabei war der erhöhte Anteil von Blei oder Arsen. Ihre Forschergruppe vermutet eine Herkunft aus korrodiertem Kriegsmaterial. Was kann man konkret tun?
Gesine Witt:
In der Nord- und Ostsee lagern Altlasten von circa 1,6 Millionen Tonnen konventioneller Munition und 5.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe, die im Zweiten Weltkrieg dort versenkt wurden. Die Metallhüllen der Bomben und Minen rosten mit der Zeit durch. So gelangen die darin liegenden Schadstoffe und enthaltene Schwermetalle in die Meeresumwelt. Leider kann man hier aktuell nichts tun. In Forschungsprojekten wurden Daten zur räumlichen Verbreitung gewonnen. Die Umweltmininister*innen-Konferenz hat 2019 beschlossen, die Daten- und Informationslage zur Gefährdung der Meeresumwelt durch Munitionsaltlasten zu verbessern. So sollen zum Beispiel geeignete Maßnahmen wie die Bergung und Entsorgung der Munition entwickelt werden.

Die Studie zeigte, dass lange Zeiträume erforderlich sind, um Schadstoffe wieder auf natürliche Werte zurückzuführen. Dieses unausgewogene Verhältnis zwischen Anwendung und Ablagerung, so das Fazit, unterstreicht die Notwendigkeit verbesserter Monitoring-Programme. Welche sind das und welche rechtsverbindliche Umweltziele müssen festgelegt werden?
Gesine Witt: Die Nordsee ist ein stark wirtschaftlich genutztes Meer mit hoch industrialisierten und intensiv landwirtschaftlich genutzten Einzugsgebieten. Überwacht werden in erster Linie die bereits identifizierten und als prioritär und potenziell gefährlich eingestuften Stoffe. Geregelt wird das Monitoring über die EU-Wasserrahmenrichtlinie WRRL und die EU-Meeresstrategierichtlinie MSRL. Damit werden auch die in die Nordsee einmündenden Flusseinzugsgebieten überwacht. Im Nordostatlantik, was die Nordsee einbezieht, gibt es ebenfalls ein internationales Übereinkommen zum Schutz der Meeresumwelt, bekannt unter der Abkürzung OSPAR.

Außerdem beinhalten die Monitoring Programme auch die Suche nach weiteren Stoffen im Meer, die schädliche Auswirkungen haben könnten. Es wird geklärt, wie hoch die Konzentration der Schadstoffe ist und ob diese bereits unerwünschte Effekte hervorrufen können. Außerdem wird überprüft, ob es durch die gesetzlichen Maßnahmen zu einer Verringerung der Schadstoffkonzentration von verbotenen Stoffen gekommen ist. Die Umweltüberwachung der persistenten organischen Schadstoffe in der Meeresumwelt ist sehr aufwendig und teuer. Ich denke, für die Zukunft benötigen wir ein räumlich und zeitlich effektiveres Monitoring.

Wir haben in dem Teilprojekt „NOAH - Synthesis  für die Sedimentanalytik“ neue analytischen Methoden entwickelt. Im Vergleich zu den herkömmlichen Untersuchungen sind unsere Messmethoden weniger arbeitsintensiv und kostengünstiger. Sie lassen sich im Allgemeinen besser standardisieren. Diese Methoden sind weniger störanfällig und erfordern keine weitere Probenaufbereitung. Insbesondere für die Etablierung der Messungen auf hoher See, zum Beispiel auf Forschungsschiffen, werden solche effektiven Untersuchungsmethoden benötigt, die keine Energie und nur wenige Versuchsgeräte und Materialien benötigen.

Interview: Katharina Jeorgakopulos

Originalpublikation

Assessing the chemical anthropocene – Development of the legacy pollution fingerprint in the North Sea during the last century - ScienceDirect
https://www.hereon.de/innovation_transfer/communication_media/news/104987/index.php.de
www.noah-project.de/
http://umweltanalytik-hamburg.de/projekte/noah-north-sea-obser/

Die Studie zur zeitlichen Veränderung der Schadstoffbelastung in der Nordsee , die gerade dasFachjournal Environmental Pollution veröffentlichte, wurde unter anderem von der Umweltchemikerin Frau Prof. Dr. habil. Gesine Witt am Life Sciences Campus Bergedorf durchgeführt. Die Leitung der Studie hatten Forschende des Instituts für Umweltchemie des Küstenraumes von Helmholtz-Zentrum Hereon inne, weitere Kooperationspartner*innen waren das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH), die Universität Hamburg sowie die Universität Aachen (RWTH). Die Studie war Teil des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 2,5 Millionen Euro geförderten NOAH-Projekts (North Sea Observation and Assessment of Habitats).

Prof. Dr. habil. Gesine Witt leitete mit ihrem Team eines der Teilprojekte. Ziel war es, ein umfassendes Konzept zur Risikobewertung von organischen Schadstoffen auf Basis der biologisch verfügbaren Schadstofffraktion in der deutschen AWZ der Nordsee und in Zusammenarbeit mit dem BMBF Projekt SECOS in der Ostsee sowie in küstennahen Gebiete zu erarbeiten. Mit diesem Konzept sollen Entscheidungsträger*innen eine solide Basis erhalten, um ein Risikomanagement einzuführen. Neben der Entwicklung der analytischen Methoden wurden diese anschließend im Sediment und in Organismen (Miesmuschel, Wattwurm) in der Nordsee erprobt. Ziel ist es, diese später in der Praxis relativ einfach und flächendeckend anzuwenden und als innovative Indikatoren der Schadstoffuntersuchung für MSRL und WRRL einzusetzen.

Kontakt

Fakultät Life Sciences
Department Umwelttechnik 
Prof. Dr. Gesine Witt
Professorin für Umweltchemie und Toxikologie
T +49 40 428 75-6417
gesine.witt (at) haw-hamburg (dot) de
 

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