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Für das Energienetz der Zukunft: Die HAW Hamburg forscht an offenen Systemen für Energiedienstleistungen

„Open Systems for Energy Services“, kurz OS4ES, so heißt ein aktuelles Forschungsprojekt unter der Leitung von Professor Dr. Wolfgang Renz in der Fakultät Technik und Informatik. Im Rahmen des von der EU geförderten Forschungsvorhabens entwickelten er und sein Forscher-Team gemeinsam mit Wissenschaftlern und Unternehmen aus neun europäischen Staaten eine Kommunikationsplattform, die als Echtzeit-Marktplatz für regional erzeugte Energie (Smart Market) fungieren soll.

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Wie kann die regenerative Energie in das bestehende Stromnetz eingespeist werden? Forschungen hierzu an der HAW Hamburg

Ob die Energiewende gelingt, ist nicht nur eine Frage von Wind-, Wasserkraft- und Solaranlagen sowie verschiedener Speichertechnologien und dem Ausbau der Elektrizitätsnetze – über allem steht die Notwendigkeit einer ausgeklügelten Informations- und Kommunikationstechnik (IKT). Sie ermöglicht es, alle Komponenten über eine Datenplattform miteinander zu verbinden, und das am besten noch in Echtzeit, etwa um den Handel vieler kleiner Ökostromerzeuger an einer Börse zu ermöglichen.

Bislang ist der Stromhandel nur für die Betreiber großer Kraftwerke möglich. Dass für dieses Ziel immense Datenmengen verarbeitet und gespeichert werden müssen sowie schnelle Datennetze benötigt werden, kann man sich vorstellen. Aber dazu braucht es vor allem auch spezielle Rechner-Programme und eine entsprechende Systemarchitektur. Das klingt nach einer großen Herausforderung für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Professor Wolfgang Renz und seine Arbeitsgruppe vom Department Informations- und Elektrotechnik der HAW Hamburg. Im Rahmen eines von der EU geförderten Forschungsprojektes entwickelten er und seine Mitarbeiter Tim Dethlefs, Ole Behncke, Thomas Preisler, Nils Weiss und Petrit Vuthi gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern und Unternehmen aus neun europäischen Staaten eine Kommunikationsplattform, die als Echtzeit-Marktplatz für regional erzeugte Energie (Smart Market) fungieren soll.

Eine Herausforderung der Energiewende ist die elektronische Steuerung der Prozesse

Im Gegensatz zu den mit fossiler Energie oder Atomkraft betriebenen Großkraftwerken der zentralisierten Energieversorgung bedeutet eine Wende hin zu dezentraler Erzeugung aus vielen verschiedenen Anlagen und Speichern eine viel höhere Komplexität, um die Prozesse rund um die Elektrizität zu steuern und kontrollieren. Wind und Sonne sind naturgemäß schwankende Energiequellen, trotzdem muss die Stromversorgung ebenso gewährleistet werden wie die Netzstabilität.

Das geschieht zum einen durch innovative Speicherlösungen und eine verbesserte Abstimmung zwischen Erzeugung und Verbrauch („Demand Side Management“), zum anderen durch die Integration von Informations- und Kommunikationstechnik. „Sogenannte Aggregatoren – Rechnerprogramme – bündeln die schwankenden Energieressourcen zu virtuellen Kraftwerken“, erklärt Wolfgang Renz. „Dadurch sehen sie für die Marktteilnehmer wie klassische Großkraftwerke aus. Die Aggregatoren verbergen somit die Komplexität der dezentralen Energiequellen und machen deren Flexibilität verfügbar.“

Um jedoch gegen Ausfälle oder Fehlplanungen gewappnet zu sein, die ein großes operatives und auch finanzielles Risiko bedeuten würden, brauchen die Aggregatoren Reserven oder Plattformen, auf denen sie zusätzliche Ressourcen beschaffen können.

Warum offene Informations- und Marktplattformen?

Beispielsweise von Kleinerzeugern, deren Stromkapazitäten oft nicht ausreichen für eine Direktvermarktung an den etablierten Energiebörsen. Dafür braucht es offene Informations- und Marktplattformen, die einen schnellen, direkten, automatisierten und flexiblen Energieaustausch ermöglichen. Mit ihrer Hilfe kann man die Potenziale der Kleinerzeuger nutzen und die wetterbedingten Schwankungen der Anlagen verwalten beziehungsweise ausgleichen. Das internationale Forschungsprojekt heißt dementsprechend Offenes System für Energiedienstleistungen für das Energienetz der Zukunft (Open System for Energie Services, kurz: OS4ES). Von Juli 2014 bis Oktober 2017 kooperierten neun europäische Partner aus Industrie und Anwendungsforschung sowie das Labor für Multimediale Systeme (MMLab) an der HAW Hamburg unter der Leitung von Professor Renz.

„Das Herzstück des OS4ES-System ist das vom MMLab maßgeblich mitentwickelte verteilbare Register (Registry)“, berichtet der Physiker und Informatiker. „Hier speichern wir alle wichtigen Informationen über die angemeldeten Energieressourcen. Betreiber von kleinen Ökostromanlagen und Speichern können auf diese Weise ihre Kapazitäten als Energiedienstleistungen anbieten und von speziellen Programmen (Aggregatoren) gesucht und reserviert werden.“ Das Register ist somit Informationssystem und Marktplatz in einem. Die Aggregatoren können die angebotenen Energiedienstleistungen zeitweilig in ihr virtuelles Kraftwerk integrieren und direkt im Rahmen der Buchung steuern. Da die Kapazitäten als standardisierte Energiedienstleistungen dargestellt werden, kann das Rechnerprogramm viele verschiedene Energieressourcen miteinander vergleichen, Einsatzrisiken abschätzen und obendrein den besten Preis erzielen.

Sicherheit der Daten schützen

Voraussetzung für so eine Kommunikationsplattform ist die Sicherheit der Daten, um sowohl deren Privatheit zu gewährleisten als auch das gesamte System vor Angriffen zu schützen. Zugleich soll das Systemkonzept offen und transparent sein, um es anhand von Normen und Standards weiterentwickeln zu können und in der Größe skalierbar, also ausbaufähig zu sein für Millionen von potentiellen Nutzern. Deshalb setzten die Forscher bei der Programmierung auf eine offene Systemarchitektur mit einer webbasierten Kommunikation, die auf internationalen Standards beruht (Übertragungsprotokoll IEC 61850-8-2), um eine leistungsfähige Plattform zu entwickeln.

Das System wird im Rahmen von NEW 4.0 getestet

In der Praxis erprobt wird das System nun im Rahmen der Norddeutschen Energiewende (NEW 4.0), einem Gemeinschaftsprojekt von Hamburg und Schleswig-Holstein, in dem Wissenschaft, Wirtschaft und Behörden zusammen arbeiten. Sie haben einen Verbund gegründet, zu dem Netzbetreiber gehören sowie Firmen und Privatkunden, die Wind- oder Solarstrom bereitstellen und verbrauchen oder Blockheizkraftwerke betreiben oder Speicherkapazitäten zur Verfügung stellen – und sei es durch die Nutzung von Elektromobilität. Die Daten dieser sehr unterschiedlichen Teilnehmer werden auf der Kommunikationsplattform miteinander verknüpft und zu den bereits genannten virtuellen Kraftwerken zusammengeschaltet. Auf diese Weise können zum Beispiel Stromproduktion und Stromverbrauch über ein sogenanntes intelligentes Netz (Smart Grid) aufeinander abgestimmt werden.

Was getestet und simuliert wird

Zu den Tests gehörten Simulationen des Markt- und Handelsverhaltens der Aggregatoren und Energieressourcen mit dem zuvor entwickelten Datenregister im Labor für Multimediale Systeme (MMLab) der HAW sowie im Smart Grid Labor des Technologiezentrums auf dem EnergieCampus in Hamburg-Bergedorf. Auch eine Beschaffung von Ersatzressourcen durch den Aggregator wurde simuliert. „Der Aggregator ist in der Lage, preissensitive Stromkapazitäten aus Solaranlagen zu beschaffen, um die operativen Kosten zu senken“, sagt Projektleiter Renz. „Im verbliebenen Zeitraum, zwischen 18 und 23 Uhr, wird zusätzlich eine konventionelle Energieressource eingesetzt, um die Nachfrage in der Spitze zu decken.“ Gelungen ist bei den Simulationen nach Angaben des Wissenschaftlers auch die Integration eines stromgeführten Blockheizkraftwerks (BHKW) samt Wasserspeicher für die entstehende Wärmeenergie in das OS4ES-System: „Das BHKW platzierte Angebote für Energiedienstleistungen im Datenregister und konnte daraufhin von einem Aggregator gebucht und gesteuert werden.“

Erfolgreicher Feldversuch mit 35 Haushalten zeigt den Bedarf an innovativen IKT-Lösungen

Außerdem führten die Forscher einige Monate lang einen Feldversuch mit 35 Haushalten in den Niederlanden durch, wo der Verteilnetzbetreiber Stedin eine Wohnsiedlung für Versuchszwecke mit einem Smart Grid ausgestattet hatte. Die Häuser besitzen zudem eine Photovoltaik-Anlage und einen Batteriespeicher. Die Ergebnisse sind vielversprechend und zeigen den Bedarf an innovativen IKT-Lösungen für die dezentrale, ökologische Energieerzeugung. Und sie sind wichtig für die gegenwärtige Diskussion um Bestands- und Marktdaten, sowie den automatisierten Handel von elektrischer Energie in Deutschland und anderen europäischen Ländern.

„Unsere Untersuchungen bestätigen die Zukunftsfähigkeit des Systems“, so Renz. „Das verteilte `Flexibilitätendatenregister´ ermöglicht auch kleinen Erzeugern, Speichern und Verbrauchern, ihre Dienstleistungen schnell auf dem Markt anzubieten und buchen zu lassen.“ Das geschieht automatisiert und im Tagesverlauf (intraday) auf einem der direkten oder indirekten Vertriebskanäle des zukünftigen „intelligenten Marktes“ (Smart Market). Die aus dem erfolgreich abgeschlossenen Projekt gewonnenen Erkenntnisse fließen in die kommenden Projekte ein, die dazu dienen, die Kommunikationstechnik des Stromnetzes fit für die Zukunft zu machen.
(Autorin: Wissenschaftsredakteurin Monika Rößiger)

Kontakt

Fakultät Technik und Informatik
Department Informations- und Elektrotechnik
Prof. Dr., rer. nat. Wolfgang Renz
Professor für Verteilte Systeme, Leiter MMLab
Te. 040.428 75-8304
Wolfgang.Renz (at) haw-hamburg (dot) de

 

 

 

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