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Sommer 2020, COVID-19

Fliegen: ja oder nein?

Sechs Fragen an... Dieter Scholz, Professor für Flugzeugentwurf, Flugmechanik und Flugzeugsysteme an der Fakultät Technik und Informatik, Leiter der Aircraft Design and Systems Group (AERO) im Department Fahrzeugtechnik und Flugzeugbau. Er warnt vor allzu sorglosem Flugbetrieb in der Corona-Pandemie. Die Wahrscheinlichkeit sich im Flugzeug anzustecken sei nicht  "extrem gering" wie von der Luftfahrtbranche behauptet, sondern quantifiziert "real". Die Entscheidung zu "Fliegen: ja oder nein?" müsse jeder für sich treffen nach Abwägung aller Argumente, ist der promovierte Ingenieur überzeugt.

Porträtfoto von Dieter Scholz, Professor für Professor für Flugzeugentwurf, Flugmechanik und Flugzeugsysteme an der Fakultät Technik und Informatik

Professor Dr. Dieter Scholz ist überzeugt, dass die Luftfahrtbranche die Risiken einer Corona-Infektion beim Fliegen verharmlost.

Würden Sie als Experte für Kabinensysteme in der aktuellen Situation in Urlaub fliegen?
Im Sommer 2020 wollte ich eigentlich eine Reise nach China mit dem Zug unternehmen. Nach den Ereignissen in Wuhan hatte ich stattdessen eine Reise nach Uganda geplant – mit dem Flugzeug. Auch diese Planung musste ich im Zuge der Pandemie aufgeben. Aber Deutschland bietet auch so viel. Während des Lockdowns bin ich in Etappen dem europäischen Fernwanderweg E1 gefolgt, der auch um meinen Wohnort herumführt. In den Ferien möchte ich mit dem Fahrrad irgendwo in Norddeutschland unterwegs sein.

Jeder muss für sich entscheiden, wo Urlaub in diesem Sommer stattfinden soll und wie man sich dabei fortbewegen möchte. Wenn wir Urlaub in unmittelbarer Nähe unserer Wohnung machen, dann entfällt der Transport. Es gibt auch Fortbewegungsmöglichkeiten ohne jede Ansteckungsgefahr: Wandern, Fahrradfahren, Motorradfahren und Autofahren gehören dazu. Motorradfahren beinhaltet wieder andere Risiken.

Bekanntlich steigt die Ansteckungsgefahr wenn man 1.) in großen Gruppen zusammen ist, 2.) dabei mit anderen Personen eng zusammen kommt und 3.) das auch noch über lange Zeit. Diese drei Gefährdungen sind sowohl im Flugzeug, in der Bahn und im Fernbus gegeben. Im Detail gibt es aber Unterschiede bei der Gruppengröße, den Sitzabständen und der Fahrzeit. Weiterhin muss die Technik des Belüftungssystems beachtet werden. Im Bus muss die unzureichend gefilterte Umluft abgeschaltet werden, ansonsten würden sich Viren über die Klimaanlage verteilen. Flugzeuge werden mit Außenluft belüftet, die im Triebwerk verdichtet und ungefiltert in die Kabine gelangt. Das ist hochproblematisch, aber ein ganz eigenes Thema. In Flugzeugen wird zusätzlich Umluft eingesetzt, die vergleichsweise gut gefiltert ist. In alten Zügen kann man die Fenster öffnen. Was will man mehr?

Wo liegen die Risiken beim Fliegen? 
Eigentlich wäre es die Aufgabe der Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) gewesen, die Risiken des Fliegens in der Pandemie erst einmal zu ermitteln und daraus Handlungsanweisungen abzuleiten. Leider hat die EASA keine Risikoabschätzung vorgenommen und auch nur Handlungsempfehlungen herausgegeben, die von Flughäfen und Airlines in Deutschland nicht vollständig beachtet werden. Ich habe mir dann meine eigenen Gedanken gemacht und eine Rechnung vorgelegt. Der Text steht seit einem Monat u. a. in den Online News der Fakultät Technik und Informatik. Auf die Kurzfassung der Rechnung komme ich gleich zu sprechen. Ich behaupte: Es besteht eine reale Gefahr sich im Flugzeug mit SARS-CoV-2 anzustecken. Die EASA wurde mit meiner Rechnung konfrontiert und erklärt dazu lediglich, dass es an jedem Passagier selbst läge, die Hygieneanweisungen einzuhalten. Die Airlines fordern aber nur Alltagsmasken. Diese und das Händewaschen reichen zum Schutz im Flugzeug jedoch nicht aus. Viren können trotzdem eingeatmet werden.

Die maßgebliche Gefährdung beginnt dann, wenn ein an COVID-19 Erkrankter im Flugzeug sitzt. Die folgenden Überlegungen können mit einem Taschenrechner nachvollzogen werden. Multiplikation und Division reichen aus. Derzeit sind in Deutschland etwa 6.000 Personen an COVID-19 erkrankt. Die Untererfassung (Dunkelziffer) beträgt nach Robert Koch Institut (RKI) etwa 16. In Deutschland leben 83 Millionen Menschen und es wird vor Abflug nicht getestet. Zusammen bedeutet das, dass etwa ein Passagier von 1.000 Passagieren mit Corona im Flugzeug sitzt. Bei einem typischen Flugzeug für 200 Passagiere wäre das eine Person bei jedem fünften Flug. Über die Ansteckungsrate liegen in der Literatur wenig Daten vor. Ich will nicht übertreiben. Rechnen wir einmal damit, dass ein Erkrankter jede Flugstunde nur 0,1 % der anderen Personen im Flugzeug ansteckt. Bei einem Flugzeug mit 200 Sitzen und einem Flug über 5 Stunden würde sich eine Person anstecken. Da dies aber nur bei jedem 5. Flug passiert, wäre die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung mit COVID-19 dann 1 zu 1.000. Das entspricht 4 Richtigen im Lotto. Darum sage ich: Es besteht eine reale Gefahr sich im Flugzeug mit SARS-CoV-2 anzustecken. Jeder muss für sich entscheiden, ob er/sie sich bei dieser Wahrscheinlichkeit und den Gefahren von COVID-19 auf einen Flug einlassen will. Wie wichtig ist der Flug? Mit welcher Maske will ich mich schützen, wenn ich mich der Gefahr aussetze? Nur eine individuelle Abwägung kann die Frage "Will ich Fliegen?" beantworten. 

Vor der Corona-Pandemie beförderte die Lufthansa 350.000 Personen am Tag und will jetzt wieder 40 % der Flüge aufnehmen. Damit würde die Lufthansa über 100 COVID-19 Erkrankte pro Tag produzieren. Das wird nicht weiter auffallen, weil in Deutschland weder vor dem Flug noch nach dem Flug in irgend einer Weise getestet wird. Flughäfen haben ein großes Einzugsgebiet. Das Einzugsgebiet des Hamburger Flughafens umfasst z. B. 10 Millionen Einwohner und reicht von Niedersachsen bis in das südliche Dänemark. Anders als bei Schlachtbetrieben verteilen sich die Personen, die sich im Flugzeug angesteckt haben, über ein viel größeres Gebiet. Daher kann der Anteil der Fallzahlen durch den Luftverkehr kaum auf den Luftverkehr zurückgeführt werden. Der Luftverkehr könnte daher einen wichtigen Anteil an einer zweiten Corona-Welle haben, ohne dabei aufzufallen.

Nur der Luftverkehr verbindet Kontinente derart schnell. Das ist ein Segen, hat aber das Corona-Virus auch extrem schnell über die Welt verteilt und damit die Pandemie ausgelöst. Der Luftverkehr ist jetzt wieder am Start und verteilt dadurch zwangsläufig die Viren wieder über die Welt. Flugzeuge erreichen Deutschland auch wieder aus Risikogebieten wie den USA oder Brasilien. Es wird nicht getestet. Ein Schutz besteht dann nur durch die Quarantäneverordnungen der Bundesländer.

Wie verbreiten sich Viren im Flugzeug?
Von den möglichen Ansteckungsmechanismen ist offensichtlich im Flugzeug die Verbreitung der Viren durch die Luft am wichtigsten. Wir müssen dabei drei Ausbreitungswege im Flugzeug unterscheiden.

  1. Wenn ein an COVID-19-Erkrankter an Bord ist, dann atmet, hustet und niest er. Die vom Erkrankten ausgehende Virenwolke dehnt sich aus. Dabei nimmt die Konzentration der Viren ab. Irgendwann trifft diese Virenwolke auf den Sitznachbarn. Je weiter dieser entfernt sitzt, desto geringer ist die Konzentration der dann eingeatmeten Viren.
  2.  Im Flugzeug werden Kabinenquerschnitte belüftet. Die Sitzreihen sind nicht durch Wände voneinander getrennt. Daher findet ein Luftaustausch durch die Klimaanlage innerhalb weniger Reihen statt. Um den Kabinenquerschnitt vollständig zu belüften, tritt die Luft im oberen Bereich der Kabine aus und verlässt die Kabine durch zwei Schlitze rechts und links zwischen Wand und Kabinenboden. Dabei ergibt sich eine zirkulierende Luftströmung. Im Detail hängt die Luftströmung vom Flugzeugtyp ab. Eine Person links am Fenster könnte dadurch auch eine Person rechts am Fenster in einer benachbarten Sitzreihe anstecken.
  3. Beim Atmen, Husten und Niesen werde auch virushaltige kleinste Tröpfchen freigesetzt sogenannte Aerosole. Durch Turbulenz und Diffusion können sich die Aerosole in der ganzen Kabine verteilen vergleichbar dem Geruch, der sich durch eine Zigarette verbreitet. Die Turbulenz der Luft ergibt sich durch die Luftströmungen der Klimaanlage, durch die individuellen Luftdüsen und dadurch, dass Personen durch den Gang gehen. Die Verteilung in der ganzen Kabine ist bekannt aus Strömungssimulationen aber auch aus der Auswertung von Ereignissen bei denen sich Personen im Flugzeug angesteckt haben, die viele Sitzreihen von der erkrankten Person entfernt saßen. Das bedeutet, dass wir auf keinem Platz im Flugzeug sicher sind. Wenn wir aber dicht neben einer erkrankten Person sitzen, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung besonders groß.

Welche Faktoren bestimmen die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung?
Um sich mit einer Virenerkrankung anzustecken, bedarf es einer bestimmten Mindestanzahl aufgenommener Viren. Die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung im Flugzeug ergibt sich dadurch insbesondere aus dem Abstand zur erkrankten Person und durch die Dauer des Fluges. Je länger der Flug dauert, desto eher können wir uns anstecken.

Der Vorschlag, Sitze im Flugzeug freizulassen, um dadurch den Abstand zwischen Passagieren zu vergrößern, wurde durch die Luftfahrtbranche abgelehnt, weil sich damit keine Gewinne erzielen lassen. Die Airlines haben inzwischen Fakten geschaffen. Die Flugzeuge sind voll.

Ein wirksamer Fremd- und Eigenschutz wird nur durch filtrierende Halbmasken ohne Ausatemventil erreicht. Dabei sollte mindestens eine FFP2-Maske (Schutzwirkung mindestens 95 %) zum Einsatz kommen. Möglich wäre auch ein Atemschutzmaske mit mindestens P-Filter. Die EASA empfiehlt jedoch nur medizinische Gesichtsmasken nach EN 14683, die vor allem dem Fremdschutz dienen. Im Flugzeug werden lediglich Alltagsmasken genutzt, die zum Essen abgenommen werden. Die Alltagsmasken sind aber vermutlich besser als nichts.

Halten Sie die derzeitigen Maßnahmen der Fluggesellschaften für ausreichend? Was könnte die Luftfahrtbranche besser machen?
Die Maßnahmen sind nicht ausreichend. Es werden noch nicht einmal die milden Empfehlungen der EASA vollständig umgesetzt. Die Fluggesellschaften lehnen alles ab, was Geld kostet oder die Nachfrage reduzieren könnte. Sie nehmen für sich in Anspruch bei der Lockerung der Corona-Maßnahmen an erster Stelle berücksichtigt zu werden, ohne dafür wirklich entsprechend Verantwortung zu tragen. Die Bevölkerung wird mit Falschaussagen in die Flugzeuge gelockt. Bei allem Verständnis für Mitarbeiter und Aktionäre, aber mit derartigem Egoismus kommen wir als Gemeinschaft in der Krise nicht weiter. Andere Branchen müssen auch erhebliche finanzielle Konsequenzen hinnehmen und werden nicht mit derart hohen Beträgen gerettet wie einige Airlines.

Die Luftfahrtbranche sollte die Passagiere sachlich aufklären. Das geschieht derzeit leider nicht. Es werden umfangreich Falschaussagen verbreitet, um den Passagieren einzureden, Fliegen in Zeiten von Corona wäre sicher, stressfrei und bequem. So etwas ist unmoralisch und sollte unterbleiben. 

Ich versuche mit technischen Hintergrundinformationen aufzuklären und Organisationen der Luftfahrt in Deutschland zu überzeugen, ihre Aussagen im Internet an die Fakten anzupassen. Teilweise gelingt es mir durch sachliche Hinweise zu überzeugen. Manchmal ist der Widerstand aber größer. Dann kann die "Vierte Gewalt" (die öffentlichen Medien, wie Presse und Rundfunk) den Druck erhöhen. So konnten bereits Ergebnisse erzielt werden. Besonders dreist war vom Bundesverbandes der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL), das Robert-Koch-Institut fälschlich als eine Art Gütesiegel zu nutzen mit der Aussage: "Das Risiko, sich während einer Flugreise mit dem Virus anzustecken, ist extrem gering. Das bestätigt auch das Robert-Koch-Institut (RKI)". Das RKI hatte – auch auf Anfrage – nichts dergleichen bestätigt und war über die Aussage des BDL alles andere als erfreut. So wurde die betreffende Internetseite schließlich vom BDL gelöscht.

Die Luftfahrtindustrie hat kein Wissensmonopol zur Luftfahrtechnik. Öffentliche Stellen wie das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) täten darum gut daran, technische Sachverhalte mit einer neutralen Stelle abzugleichen, bevor Verbänden auf falscher technischer Grundlage weitreichende Zugeständnisse gemacht werden.

Die Omnipräsenz der Luftfahrtlobby in den Medien zum Thema wurde jetzt gebrochen. Es hat in letzter Zeit viele kritische Berichte zum Thema "Corona und Fliegen" gegeben. Mit der Aussage "Die Luft im Flugzeug ist so rein wie in einem Operationssaal" hat sich die Luftfahrtbranche gründlich blamiert (siehe u. a. ZDF/3sat nano vom 03.07.20) und sich damit selbst einen Imageschaden zugefügt. Vermutlich werden Passagiere in Zukunft alle Aussagen der Branche sehr kritisch würdigen.

Wie könnten sich Passagiere unter den gegebenen Umständen verhalten?
Vertrauen Sie keinem, der Ihnen sagt, etwas wäre sicher oder unsicher (auch mir nicht). Wägen Sie selber ab. Am Ende müssen Sie auch die Konsequenzen Ihres Handelns selber tragen. Wenn Sie sich in Gefahr begeben, dann sollten Sie sich entsprechend schützen. Damit meine ich nicht den Abschluss einer Versicherung. Beim Fliegen können qualitativ hochwertige professionelle Masken zum Fremd- und Eigenschutz helfen und die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung im Flugzeug reduzieren. Die Masken müssen dicht am Kopf sitzen und sollten während des Fluges nicht abgenommen werden. Kein Platz im Flugzeug ist sicher. Wenn Sie die Wahl haben, nehmen Sie einen Fensterplatz. Schließen Sie die Luftdüse, um weitere Turbulenz zu vermeiden. Bleiben Sie im Sitz und gehen sie nicht unnötig umher. Eine gute Maske ist wichtiger als alle weiteren hier genannten Maßnahmen. 

Denken Sie an mögliche finanzielle Konsequenzen. Wer zahlt, wenn sich Ihre Reiseplanung wegen Corona nicht umsetzen lässt? Wer zahlt auftretende entstehende Zusatzkosten? Unterscheiden Sie zwischen vollmundigen Versprechen der Reisebranche und dem Kleingedruckten.

Denken Sie an mögliche rechtliche Konsequenzen. Ihnen könnte der Flug verweigert werden, wenn Sie auffällige Symptome zeigen –  unabhängig von der Krankheit, die die Symptome hervorruft. Eventuell werden Sie im Zielland nicht eingelassen oder Sie erkranken im Ausland und haben Schwierigkeiten wieder zurück nach Deutschland zu kommen.

Falls Sie sich nicht entscheiden können, dann verschieben Sie den Flug auf bessere Zeiten.


Das Interview führte Hans-Jörg Munke

Weitere Informationen:
http://corona.ProfScholz.de
 

Kontakt

Prof. Dr. Dieter Scholz
Department Fahrzeugtechnik und Flugzeugbau
Leiter Aircraft Design und Systems Group (AERO) / Professor für Flugzeugentwurf, Flugzeugsysteme und Flugmechanik
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