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Corona-Forschung

"Wir müssen auch die Unvorsichtigen überzeugen"

Die britische Coronavirus-Mutation B1.1.7 breitet sich zunehmend in Europa aus. Neben Großbritannien sind auch Irland, Portugal und Dänemark stark betroffen. Wir haben mit den Physikern Prof. Peter Möller (HAW Hamburg), Harry Drewes (freier Wissenschaftler) und dem Epidemiologen Prof. Ralf Reintjes (HAW Hamburg) sowie dem Biophysiker Dr. Gotthold Fläschner (ETH Zürich) darüber gesprochen, wie die britische Coronavirus-Mutation den Verlauf der Pandemie in Deutschland beeinflusst.

Grafik vom Coronavirus und einer Mutante

Wird laut den Berechnungen unserer Wissenschaftler die Infektionskurve in Deutschland wieder nach oben treiben: die neue Virus-Mutation.

Prof. Möller, lässt sich mathematisch berechnen, ob die Coronavirus-Mutation auch eine Bedrohung für Deutschland darstellt?
Ja, das ist möglich. Allerdings müssen wir erst einen Schritt zurückgehen: Zuerst haben wir untersucht, was die Maßnahmen ab Mitte Dezember gebracht haben. Der Lockdown hat den R-Wert von 1,10 auf 0,92 reduziert.

Der R-Wert steht für „Reproduktionszahl“ und gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Liegt er unter eins, gehen die Infektionszahlen zurück.
Genau. Je genauer wir den R-Wert kennen, desto exakter können wir berechnen, wie sich der bisherige Virustyp weiterverbreitet. An der grünen Kurve in Abbildung eins ist gut zu sehen, wie die Infektionszahlen immer weiter zurückgehen – der Lockdown zeigt seine Wirkung, der Virustyp 1 geht zurück.

Und wie kommt nun die Virusmutante ins Spiel?
Soweit uns bekannt ist, hatte Ende Januar 2021 die Virusmutation einen Anteil von sechs Prozent, an den Neuinfektionen in Deutschland. Außerdem wissen wir, dass der neue Virustyp 2 etwa 35 Prozent ansteckender ist. Damit können wir die rote Kurve berechnen. Die Summe aus der grünen Kurve (Virustyp 1) und der roten Kurve (Virustyp 2) ergibt die blaue Kurve. Diese nimmt bis Ende Februar/Anfang März ab, weil der Einfluss der bisherigen Variante überwiegt. Danach wird die neue Variante das Regime übernehmen und die blaue Kurve steigt wieder an.

Wie kommen Sie auf einem R-Wert von 1,16 für den neuen Virustyp?
Da die Virusmutation 35 Prozent ansteckender ist, muss man nur 0,86 mal 1,35 rechnen und erhält 1,16.

1,16 liegt allerdings über 1 und ist damit zu hoch. Damit vermehrt sich das neue Virus zu schnell.
Richtig! Dies ist an der roten Kurve zu erkennen. Sie steigt exponentiell an. Nur wenn wir den R-Wert der Virusmutation unter eins drücken, können wir eine dritte Welle verhindern.

Andere Länder lockern wieder, weil die Zahlen der Neuinfizierten nach unten gehen. Was empfehlen Sie?
Wir sollten momentan eher vorsichtig bleiben und nur langsam lockern. Und wir sollten schnell und konsequent reagieren, wenn sich die Lage wieder verschlechtert. Das erkennen wir an den Zahlen der Neuinfizierten und am Anteil der Virusmutation am Gesamtgeschehen. Wir sollten alles versuchen, um die Ausbreitung der neuen Virusvariante zu verhindern.

Herr Drewes, Sie haben zusammen mit Prof. Möller ein neues Modell entwickelt, das so genannte Drewes-Möller-Modell (DM-Modell), mit dem sich der R-Wert sehr genau berechnen lässt. Kam dieses Modell auch hier zum Einsatz?
Trotz schlechter Datenlage in der Zeit von Mitte Dezember bis Mitte Januar konnten wir mit unserem Modell die R-Werte relativ genau berechnen und damit auch eine zuverlässige Prognose erstellen. Das gleiche haben wir übrigens auch für andere Länder wie Großbritannien, Irland, Portugal und Dänemark gemacht.

In diesen Ländern ist die Ausbreitung der Mutation schon weiter fortgeschritten, wie in Abbildung 2 zu erkennen ist.
Genau! Deswegen konnten wir für diese Länder den Einfluss der britischen Virusmutation schon vor Wochen berechnen und unsere Prognosen mit den tatsächlichen Daten vergleichen. Die gewonnenen Erkenntnisse haben wir auf Deutschland übertragen. Das hat uns dabei geholfen, frühzeitig unser Modell so zu verfeinern, dass es auch Prognosen zum Einfluss von Virusmutationen rechnen kann. Zeit ist ein wichtiger Erfolgsfaktor im Kampf gegen die Pandemie.  

Was haben Sie noch herausgefunden?
Wir konnten mit unserer Methode die genaue Kurvenform der zweiten Welle besser verstehen. Dies haben wir auf Hamburg, Deutschland und drei weitere Länder angewendet, mit interessanten neuen Ergebnissen. Die Details würden hier den Rahmen sprengen und sind in unserem Forschungsbericht nachzulesen, der Ende Februar 2021 auf unserer Projektseite erscheint.

Vielleicht können Sie uns schon ein wichtiges Ergebnis verraten?
Die komplexe Kurvenform der zweiten Welle in den verschiedenen Ländern konnten wir mit der Annahme erklären, dass es „vorsichtige“ und „unvorsichtige“ Menschen gibt. Die „Unvorsichtigen“ haben einen höheren R-Wert als die „Vorsichtigen“ und schon wenige Prozent Unvorsichtige reichen aus, um die Zahlen der täglich Neuinfizierten nach anfänglichen Erfolgen wieder in die Höhe steigen zu lassen.

Welche Empfehlung leiten Sie daraus ab?
Ich verstehe durchaus die Menschen, die ungeduldig geworden sind und im privaten Bereich ihre Kontakte wieder aufnehmen. Aber diese „Unvorsichtigen“ tragen im hohen Maße dazu bei, dass sich die Lockdown-Situation in die Länge zieht. Über 90 Prozent der Menschen schränken ihre Kontakte ein und befolgen die Maßnahmen. Aber das reicht leider nicht. Wir müssen auch die anderen davon überzeugen, mitzumachen. Ich wünsche mir, dass weniger Menschen sterben müssen. Inzwischen hören wir in den Nachrichten nur noch, wie viele am Tag zuvor gestorben sind. Insgesamt haben wir in Deutschland bis Mitte Februar schon 66.000 und weltweit 2,4 Millionen Tote zu beklagen.

Prof. Reintjes, Sie sind Epidemiologe. Wie kann man die Unvorsichtigen überzeugen?
Das ist eine sehr große Herausforderung für uns alle. Durch Transparenz dessen, was wir aus wissenschaftlichen Untersuchungen und Erfahrung wissen und ohne zu polarisieren. So kann man am ehesten überzeugen. Auch sollten die Bedenken der Unvorsichtigen ernst genommen werden. Pandemiemanagement ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Nicht nur die Politik ist gefragt, sondern wir alle sollten Überzeugungsarbeit leisten, um gemeinschaftlich möglichst gut durch die nächsten Monate zu kommen.

Prof. Möller, sobald es die Lage wieder zulässt, planen Sie einen Vortrag „Viren – die tödlichsten Piraten der Welt“. Ihn wird Biophysiker Dr. Gotthold Fläschner zusammen mit Anna Weber halten. Der Vortrag findet im „Einstein-Forum“ statt. 
Das Einstein-Forum ist ein Angebot unserer Fakultät Technik und Informatik und bietet Studierenden, Schülerinnen und Schülern wie Lehrkräften Einblicke in aktuelle Themen aus Naturwissenschaft und Technik. Die Vorträge sind allgemein verständlich und sollen das Interesse an naturwissenschaftlichen Themen wecken und Raum für Diskussionen geben.

Dr. Fläschner, wollen sie uns verraten, um was es geht?
Viren sind die wohl raffiniertesten Krankheitserreger überhaupt. Sie entern unsere Zellen und übernehmen das Kommando, um sich selbst zu vermehren. Mit welchen ausgefuchsten Mitteln sie das anstellen und wie wir uns dagegen wehren können, erklären wir in diesem Vortrag. Es geht um die Biologie hinter den Viren, die Medizin hinter der Impfung und die Mathematik hinter der Pandemie.

Das klingt spannend! Ich hoffe, der Termin wird realisiert. Vielen Dank für das Gespräch!

(Interview: Tiziana Hiller)

Bei Prof. Dr. Uli Barth (Universität Wuppertal) und Dr. Claudius Noack (Lehrbeauftragter an der HAW Hamburg) bedanken wir uns für die vielen Ratschläge und die anschließende Diskussion.

Kontakt

Prof. Peter Möller
Professor für Physik und Mathematik
T +49 40 428 75-8112
peter.moeller (at) haw-hamburg (dot) de

Prof. Dr. Ralf Reintjes
Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung
T +49 40 428 75-7211 /-6104
ralf.reintjes (at) haw-hamburg (dot) de

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