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Forschungsprojekt

Blindenhund mal anders

Der Shared Guide Dog 4.0 ist ein autonom fahrendes Assistenzsystem, das einem Gelände-Rollator ähnelt. Es hilft blinden und älteren Menschen dabei, sicher durch die Stadt zu kommen.

Die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter Pascal Stahr und Miguel Martinez Genis bringen den Shared Guide Dog zum Laufen.

Den Bauch voll innovativer Technik

Nein, wie ein Hund sieht er nicht aus: Er hat kein weiches Fell, schaut seinen Besitzer nicht mit treuen Augen an und wedelt nicht mit dem Schwanz. Dennoch ist der Shared Guide Dog 4.0 einem Hund ähnlicher als man denkt. Denn er übernimmt alle wichtigen Funktionen eines Blindenführhundes, wenn nicht sogar mehr: Er führt blinde, sehbeeinträchtigte und ältere Menschen sicher durch den urbanen Raum mit all seinen Hindernissen. Möglich macht das ein ausgeklügeltes technisches System, das Wissenschaftler*innen der HAW Hamburg entwickelt haben. Es basiert auf der Technik fahrerloser Transportfahrzeuge und ist mit Industrie 4.0-Technik ausgestattet.

Sicher ans Ziel dank Shared Guide Dog

„Unser Shared Guide Dog basiert auf einem Gelände-Rollator, der über einen elektrischen Motor angetrieben wird“, erklärt Prof. Dr. Gärtner vom Department Maschinenbau und Produktion die Funktionsweise. "Außerdem ist er mit Sensoren ausgestattet, mit denen er sein Umfeld erfassen kann. So bringt er seine Nutzerinnen und Nutzer sicher ans Ziel." Sensoren, die an den Handgriffen der Rollatoren die Berührung messen, stellen beispielsweise sicher, dass der Abstand zu weiteren Personen oder Gegenständen eingehalten wird.

Gärtner und sein Team tüfteln bereits seit zwei Jahren an dem Projekt. Die Aufgabe ist herausfordernd und vieles muss bedacht werden: Was tun, wenn das eingebaute GPS-System in der Nähe hoher Gebäude nicht verlässlich funktioniert? Wie sehen die Sicherheitsanforderungen im öffentlichen, urbanen Raum aus? Wie kann der „Hund“ auf spärlich gekennzeichneten Parkwegen navigieren, wo Poller, spielende Kinder und tobende Hunde als Hindernisse lauern?
 

Mit diesem Fahrzeug fühle ich mich viel sicherer, weil es schwerer ist und ich mich darauf abstützen kann.

Waltraud Pulkenat, 95 Jahre, Testerin des Shared Guide Dog 4.0

Neues Feature: Pfützenerkennung

Aktuell arbeitet das Forscher*innenteam daran, den Shared Guide Dog Pfützen erkennen zu lassen. „Das Vorhaben mag banal klingen, doch verbirgt sich hinter jedem mit Wasser gefüllten Schlagloch für blinde Menschen eine Stolperfalle“, erklärt Gärtner. Herkömmliche Ansätze in der Bildverarbeitung würden bisher an den unförmigen Konturen von Pfützen scheitern, so der Wissenschaftler. Gleichzeitig gehen die wenigen Datensätze von anderen Umgebungsbedingungen aus. Daher greift Prof. Gärtners Team die bereits erhobenen Daten auf und überträgt sie auf den städtischen Fußgängerverkehr.

Getestet wurde der „Hund“ bereits auf dem Testfeld Intelligente Quartiersmobilität  der HAW Hamburg. Es bietet autonomen mobilen Systemen wie Robotern, Autos oder Rollstühlen die Möglichkeit, den Umgang mit vulnerablen Verkehrsteilnehmer*innen zu trainieren. Beispielsweise blinde, sehbehinderte und ältere Menschen. Dafür werden Sensordaten ausgewertet und mit anderen mobilen Systemen geteilt. So sollen Unfälle vermieden und der urbane Verkehr flüssiger werden. Getestet wird der Shared Guide Dog aktuell auch auf der 12 km langen Hamburger Teststrecke für Automatisiertes und Vernetztes Fahren .

Enge Zusammenarbeit mit blinden und beeinträchtigten Menschen

Um die Bedürfnisse der Nutzer*innen aus erster Hand zu erfahren, lassen die Forscher*innen der HAW Hamburg den Blindenführhund regelmäßig von Menschen mit Seheinschränkungen testen, um ihn weiter zu verbessern. Das Team arbeitet beispielsweise mit dem Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH) zusammen sowie mit der Seniorenresidenz Augustinum. Dort kam der Shared Guide Dog am 23. Juni zum Einsatz: Einige Bewohner*innen trauten sich, den Hund „auszuführen“ – in einem kleinen, privaten Park nahe der Seniorenresidenz.

Die 80-jährige Roswitha Howar ist auf einem Auge blind, auf dem anderen hat sie eine Sehkraft von lediglich 20 Prozent. Ohne ihren Rollator verlässt sie nicht das Haus. Heute hat sie ihn allerdings eingetauscht gegen den digitalen Blindenhund, dessen Navigation den Praxistest bestehen muss. Die elegant gekleidete Dame mit den kinnlangen weißen Haaren lässt sich vom „Hund“ durch einen kleinen Park nahe der Elbe führen. Hier, auf privatem Gelände, greifen noch nicht die hohen Anforderungen ans autonome Fahren aus dem Straßenverkehr. Denn: Die hohen Bäume stören das GPS-Signal, das wissen die Forscher*innen. „Wir rechnen damit, dass wir manchmal ein bis drei Meter neben der Spur sind. Das können wir uns im Straßenverkehr natürlich nicht erlauben“ erklärt Prof. Dr. Jochen Maaß, der zusammen mit Prof. Henner Gärtner das Projekt vorantreibt. Er lehrt und forscht am Department Informations- und Elektrotechnik. Daher nutzen die Wissenschaftler*innen neben GPS-Signalen auch UWB.  Die Abkürzung steht für Ultra-Breitband-Technologie, die sich in Städten wie Hamburg bald flächendeckender ausbreiten wird, da sind sich die Forscher*innen sicher. Um beide Systeme – GPS und UWB – zu nutzen, müssen die einzelnen Sender und das GPS-System verbunden werden. Alle 30 bis 60 Meter wird ein Sender benötigt. Dies hört sich viel an, doch laut der Forschenden sei diese Art von Infrastruktur nur noch eine Frage der Zeit, denn sie würde auch von autonom fahrenden Autos benötigt.

Mit langsam Schritten lässt sich Roswitha Howar durch den Park führen. „Ziel erreicht“ konstatiert der Blindenhund. Howar ist am Ende der vorher definierten Strecke angekommen. Komplett rund lief die Testfahrt durch den kleinen Parkweg, der von Bäumen gesäumt ist, noch nicht. Oft stoppte er vor Bäumen und suchte eine alternative Route. Doch genau das ist das Ziel des Tests: Schwachstellen zu erkennen und danach Lösungen für das Problem zu entwickeln. Dafür hat das Team des Shared Guide Dogs noch zwei Jahre Zeit. So lange wird das Projekt noch von der HAW Hamburg und der Hamburgische Investitions- und Förderbank gefördert. Dann sollen die Geräte für bis zu 5.000 Euro auf den Markt kommen.

Ein Hund als Leihfahrzeug

Der Gedanke, die knappe Ressource „Blindenhund“ zu teilen – wie beim Stadtrad – wird mit dem Wort „Shared“ ausgedrückt. „Wie beim Bike Sharing wird auch der Shared Guide Dog zahlreichen Personen zur Verfügung stehen. Das senkt die Kosten“, erklärt Prof. Maaß. Der Blindenhund könnte beispielsweise in einer Wohngruppe für Blinde beheimatet sein oder eben in einer Seniorenresidenz. Dort könne er einzelne Personen von der nächstgelegenen U-Bahn-Station abholen oder zum Arzt leiten, so der Professor für Automatisierungstechnik. Seniorin Waltraud Pulkenat, eine der Testerinnen, könnte sich vorstellen, einen autonomen Blindenführhund zu benutzen. „Ich fahre jeden Tag mit dem Bus nach Altona“, erzählt die 95-Jährige, die bereits seit 16 Jahren in der Seniorenresidenz wohnt. Auch sie ist auf einen Rollator angewiesen. „Mit diesem Fahrzeug fühle ich mich viel sicherer, weil es schwerer ist und ich mich darauf abstützen kann.“

Text: Tiziana Hiller

Kontakt

Prof. Dr. Henner Gärtner
Department Maschinenbau und Produktion
Berliner Tor 21
20099 Hamburg
Raum 211

M +49 176 755 222 11
henner.gaertner (at) haw-hamburg (dot) de

 

Prof. Dr. Jochen Maaß
Department Informations- und Elektrotechnik
Berliner Tor 7
20099 Hamburg
Raum 6.85

T +49 40 428 75-8087
jochen.maass2 (at) haw-hamburg (dot) de

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