019-Bauteilqualität

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Transkript

Es ist einmal wieder Zeit für ein bisschen Fertigungstechnik.
Worum geht es heute denn?
Im weitesten Sinne um unsere Bauteile und Produkte, die wir fertigungstechnisch herstellen, also um unsere Werkstücke.
Logistisch ausgedrückt, erwarten wir als Kundinnen und Kunden ja, dass wir die richtigen Produkte, demnach auch die darin befindlichen Baugruppen und Bauteile in der richtigen Menge zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu den richtigen, sprich optimalen, Kosten bekommen.
Halt! Eins fehlt da aber noch! Ja, genau! Wir wollen dies auch in der richtigen Qualität!
Wir erinnern uns: auch die Zielgrößen einer Fertigung sind vor allem die 3: Qualität, Kosten und Zeit. Unsere logistische Forderung finden wir also in den Zielen der Fertigung unmittelbar wieder.
Was macht es jetzt aber im Allgemeinen aus, das sie stimmt: die Qualität.
Dies muss für eine Fertigung in irgendeiner Art auch messbar und beschreibbar werden. Da brauchen wir dann technische Merkmale, die diese Anforderungen irgendwie mit Zahlen beschreiben.
Und die stehen ja grundlegend in unserer technischen Zeichnung und vielleicht ergänzend auch noch in einer dazugehörigen Stückliste, evtl. auch in weiteren Fertigungsvorschriften. Diese stehen immer in einem Bezug zu unserer technischen Zeichnung und einer Sachmerkmalsnummer, wenn wir uns auf dem Boden eines Fertigungsbetriebs befinden.
Was heißt das: Die Gestalt unseres Bauteils in den geometrischen Abmessungen wie Längen und Winkeln soll die von uns für die Funktion notwendigen Werte annehmen, und das innerhalb der Toleranzen, also der zulässigen Abweichungen von den Soll-Maßen.
Aber halt: Neben den Maßen gibt es selbstverständlich auch noch Form und Lage, die für unsere Bauteile für eine Funktion im Sinne unserer Anforderungen eine wichtige Grundlage darstellen. Im Wesentlichen geht es anscheinend um geometrische Größen. Wir wollen ja Bauteile in einer definierten Gestalt herstellen und verwenden.
So wie uns in der Verfahrenstechnik Druck, Temperatur, Volumen und Volumenstrom sowie die Zusammensetzung unserer Stoffe interessieren.
Soso, es gibt also irgendwie auch noch physikalische, sogar chemische Eigenschaften.
Aber ist das mit unseren fertigungstechnisch hergestellten Bauteilen nicht auch so? Verwenden wir, wo wir mit Kräften und Temperaturen Veränderungen unserer Bauteile bewirken, nicht auch physikalische, teils auch chemische Wirkprinzipien?
Das heißt aber auch, dass sich die Eigenschaften unserer Werkstücke durchaus verändern können und zwar in Abhängigkeit von den im Fertigungsprozess auftretenden Kraft- und Temperaturwirkungen.
Sehen wir uns unsere Bauteile einmal von weiterer Ferne an. Wir nehmen im Wesentlichen vor allem die geometrische Gestalt war. Mit den entsprechenden Anforderungen in der Zeichnung vergleichen wir so Maß, Form und Lage. Gehen wir jetzt ein wenig näher an unser Bauteil heran, nehmen wir als Nächstes die Oberfläche wahr. Ist die Oberfläche rau oder glatt?
Wir können diese Größen messtechnisch auch gut erfassen.
Die Oberfläche selbst können wir makroskopisch gesehen erst einmal in ihrer weiteren Form betrachten. Ist eine gewollte ebene Fläche eben? Ist ein rotationsymmetrisches, rundes Bauteil rund oder eben nicht? Wenn Abweichungen zum Soll auftreten, spricht man von Gestaltabweichungen erster Ordnung, die sich auf die Ebenheit und Rundheit beziehen. Vielleicht war unsere Maschine fehlerhaft in den Bewegungen der Führungen. Oder die Maschine beziehungsweise das Werkstück haben sich unter den Prozesskräften verformt, so dass sich dies auf unser Werkstück überträgt.
Wir gehen ein wenig näher ran an unser Bauteil. Was sehen wir nun?
Unter Umständen, dass auf der Oberfläche auch Wellen, entstehen: Welligkeit als Form der Gestaltabweichungen 2. Ordnung nennen wir das. Vielleicht haben wir gröbere Formfehler am Werkzeug, die sich im Werkstück abbilden genau wie niederfrequente, langwelligere Schwingungen. Wir haben somit bis hierhin Gestaltabweichungen, die wir vor allem makroskopisch wahrnehmen können.
Nach Gestaltabweichungen 2. Ordnung kommen unter Umständen auch noch welche 3. Ordnung.
Wir gehen jetzt wiederum noch etwas näher an die Bauteiloberfläche heran und kommen dann also in einen Bereich, den wir in unseren technischen Dimensionen sicher nur noch mit kleinen Längendimensionen beschreiben können. Wir können sie auch mit dem bloßen Auge kaum oder nur noch schwer erkennen. Demnach treten wir mit den Gestaltabweichungen 3. Ordnung in den Bereich der mikroskopischen Abweichungen ein.
Hier bilden sich jetzt kleinere Formanteile oder bestimmte, durch den Bewegungsablauf unserer Fertigungsprozesse bedingte Einflüsse auf unserem Werkstück ab. Das kann beim Spanen die Form der Werkzeugschneide sein, die sich beim Drehen an der Oberfläche durch den Vorschub abbildet. Dann entstehen typische Oberflächenmuster, die sehr häufig charakteristisch für die eingesetzten Verfahren sind: beim Drehen die regelmäßigen, periodischen Vorschubrillen, bei der Funkenerosion, beim Schleifen und Honen z.B. aber auch nicht periodische Oberflächenprofile. Wir beschreiben dies als Rauheit unserer Werkstückoberflächen, was wir auch allgemein als Oberflächengüte bezeichnen. Die zuvor genannten Ebenheiten, Rundheiten und Welligkeiten stellen klassische Abweichungen der Form dar.
Werden die Auswirkungen auf unsere Bauteiloberflächen noch immer kleiner und kleiner, beeinflusst das im weitesten Sinne noch weiter die Rauheit unserer Werkstückoberfläche. Riefen und schuppenartige Materialablagerungen beeinträchtigen unter Umständen die Qualität der Oberfläche. Diese Phänomene zählen zu den Gestaltabweichungen 4. Ordnung. Hier wird es spätestens fertigungsmesstechnisch sehr anspruchsvoll. Wie wollen wir solche Abweichungen z.B. auch in einer Serien- und Massenfertigung auf unseren Bauteiloberflächen immer und überall sicher erkennen?
Noch schwieriger wird das, wenn wir noch eine Strukturebene in unserem Material weitergehen, nämlich in die Gefügestruktur des Materials. Und spätestens hier, sind wir auch mit den physikalisch-chemischen Eigenschaften unserer Werkstoffe konfrontiert. Et voilà, wir haben Gestaltabweichungen 5. Ordnung, die sich dann auch maßgeblich in der Festigkeit und Härte unserer Werkstoffe auswirken werden.
Mit dem „Fernglas“ -in Anführungszeichen- noch tiefer in das Material geschaut, gelangen wir dann in den Gitteraufbau des Werkstoffes, was den Gestaltabweichungen 6. Ordnung zugeordnet wird. Physikalisch und chemisch kann das Vorgänge in unseren Werkstoffen beeinflussen, z.B. auch die Spannungszustände. Jedoch wird auch hier klar, dass uns als Fertigungstechnikerinnen und Fertigungstechnikern der unmittelbare Blick darauf nur sehr schwer möglich ist. Wie können wir bei 20.000, 30.000, 100.000 Teilen am Tag so etwas sicherstellen? Eine Herausforderung? Wohl schon!
Dennoch können genau diese Eigenschaften im Inneren des Werkstoffs unser Bauteilverhalten positiv oder aber auch negativ beeinflussen.
Wenn wir unsere Bauteile im Maschinen- und Anlagenbau, im Fahrzeugbau, in der Luft- und Raumfahrt, in der Medizintechnik und, und, und… immer wieder unter mechanischer, dynamischer, tribologischer und chemischer Beanspruchung, zuletzt natürlich vor allem der Korrosion, sehen, dann wird klar, dass all diese Gestaltabweichungen in ihrer Überlagerung in unserem Bauteil über das Funktionieren oder ggf. auch ein Versagen unseres Bauteils während der für dies vorgesehenen Bauteillebensdauer entscheiden werden.
Jetzt ist es aber abhängig vom Fertigungsverfahren dann so, dass wir nur bestimmte Bauteilbereiche, vielleicht aber nicht das ganze Bauteil selbst maßgeblich beeinflussen. Beim Urformen und Umformen beeinflussen wir besonders durch hohe Kräfte und Temperaturen sicherlich sehr große Bauteilbereiche. Beim Zerspanen, Scherschneiden oder der Funkenerosion verändern wir meist nur Bereiche in der direkten Nähe des Werkzeugeingriffs. Durch bestimmte Verfahren wie mechanisches oder auch elektrolytisches Polieren wollen wir diese Wirkungen gerade aber auch gezielt vermeiden, während wir bei den thermischen Verfahren wie Schweißen und Lasermaterialbearbeitung diese Einflüsse in Kauf nehmen müssen. Dann müssen wir beachten, welche Auswirkungen auf das Material entstehen: Denken wir z.B. an die Wärmeeinflusszone bei Schweißnähten.
Bei vielen Verfahren sind es so oft aber nur Bauteilbereiche mit wenigen 1/100 mm bis zu einigen 1/10 mm in der Tiefenwirkung unter der Bauteiloberfläche, während wir größere wirkende Einflüsse beim Urformen und Umformen natürlich sowohl direkt im oberflächennahen Bereich als auch den gesamten Querschnittsbereich betreffen können. Aber: beide Auswirkungen können es für das Bauteil in sich haben!
So beeinflusst ein Umformprozess sicher den Faserverlauf im ganzen Bauteilquerschnitt, was für das Verfahren an sich positiv ist. Genauso wie ein Gießvorgang beim Erstarren die Eigenschaften über die gesamte Wandstärke beeinflussen wird, was, wenn dort allerdings Mikrolunker auftreten, negativ zu werten ist. Zuletzt erinnern wir uns im Rahmen einer frühen Podcastfolge auch an die möglichen Fehler beim Gießen, die vielfältig sein können.
Zusammengefasst sprechen wir dann in den unmittelbar durch das Fertigungsverfahren beeinflussten Werkstoffbereichen von den sogenannten Randzoneneigenschaften.
Die geometrischen Randzoneneigenschaften (1.-4. Ordnung) wie Form und Oberflächengüte unterscheiden wir von den physikalischen Randzoneneigenschaften der 5. und 6. Ordnung „Gefüge, Härte und Eigenspannungen. Weil sich all diese Eigenschaften gemeinsam auf unser Bauteilverhalten auswirken können, sprechen wir im englischen Sprachraum von der sogenannten „surface integrity“, wörtlich: der Oberflächenintegrität.
Wie wir eine integre Oberfläche erreichen und Fehler vermeiden, erkläre ich, wenn es wieder heißt: „Es ist Zeit für ein wenig Fertigungstechnik."

geschrieben von Prof. Christian Müller
eingesprochen von Prof. Christian Müller