020-Gleichkanalwinkelpressen

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In den aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen spielt die nachhaltige und energieeffiziente Produktion eine immer größer werdende Rolle. Die Herausforderungen liegen nun in der klugen und faktenbasierten Analyse und dem möglichen Vergleich der Ökobilanzen von Produktionsprozessen, z.B. bzgl. des Energieverbrauchs, des CO2-Fußabdrucks oder auch der Einführung von Kreislaufprozessen. Vergleicht man nun die Herstellung eines Produktes durch mehrere alternative Prozessketten, kommt der Bewertung der einzelnen Fertigungsschritte und damit der angewendeten Fertigungsverfahren erhöhte Bedeutung zu. Es gilt also für die Zukunft, das Wissen um die Vor- und Nachteile der Fertigungsverfahren für die Umsetzung nachhaltiger Produktionsprozesse zu nutzen. Dabei kommt der Umformtechnik eine interessante Rolle zu, wird sie doch aktuell aufgrund der hohen Investitions- und daraus resultierenden Fixkosten für Werkzeugmaschinen und Werkzeuge insbesondere für Werkstücke der Massenproduktion eingesetzt. Bei der Herstellung von Automobilen, Konsumgütern und Konstruktionsbauteilen kommen klassische umformende Verfahren wie Schmieden, Walzen, Biegen, Tiefziehen, Strangpressen und Fließpressen zum Einsatz. Dieses hat zum einen mit der hohen Produktivität der Umformprozesse zu tun, d.h. mit der Anzahl herstellbarer Werkstücke pro Zeiteinheit. Insbesondere mit Blick auf die Nachhaltigkeit ist außerdem interessant, dass bei der Umformtechnik die Materialausnutzung im Vergleich zu zerspanenden Verfahren hoch ist, also wenig Abfall entsteht. Zudem muss die Geometrie des zu fertigenden Werkstücks nicht im Rohteil enthalten sein, was sich beispielsweise günstig in Bezug auf die Logistik der Ausgangsstoffe auswirken kann. Ein weiterer Grund des Einsatzes umformtechnisch hergestellter Bauteile liegt in der Möglichkeit, gezielt die mechanischen Eigenschaften beeinflussen zu können. Der Begriff Kaltverfestigung beschreibt diesen Zusammenhang zwischen der Kaltumformung, also bei Temperaturen unterhalb der Rekristallisationstemperatur des Werkstoffes und der mit der Umformung, d.h. der geometrischen Änderung des Werkstückes, einhergehenden Änderung der mechanischen Eigenschaften. Dieser Effekt der Verfestigung und damit verbunden der gezielten Beeinflussung der mechanischen Eigenschaften macht die Umformtechnik interessant für Bauteile mit hochdynamischer Anwendung bei schwellenden und wechselnden Beanspruchungen. Sicherheitsbauteile und -einrichtungen beruhen genau deshalb häufig auf einer Herstellung durch umformende Verfahren.
Umformen bedeutet also im Normalfall eine gewünschte plastische Formänderung, d.h. Änderung der Geometrie, kombiniert mit einer gezielten Einstellung der mechanischen Eigenschaften. Das eine ohne das andere ist technisch nicht möglich – oder doch? Ein Studierender wies mich vor Jahren auf das Gleichkanalwinkelpressen (englisch: equal channel angular pressing, ECAP) hin. Ausgangs- und Fertigteil sind von der Form her identisch, aber besitzen unterschiedliche mechanische Eigenschaften. Im einfachsten Fall des Verfahrens wird ein Rohteil, z.B. ein Stab mit einem quadratischen Querschnitt, durch ein Werkzeug gepresst. Dabei besitzt der Kanal im Werkzeug, in den das Werkstück eingelegt und durch den es dann gedrückt wird, über die gesamte Länge den gleichen Querschnitt wie das Werkstück. Es gibt bei Betrachtung des Werkstücks vor und nach dem Gleichkanalwinkelpressen keine Formänderung. Allerdings ist der Kanal im Werkzeug abgewinkelt, so dass beispielsweise das Werkstück von oben in das Werkzeug gedrückt wird und auf der rechten Seite der Form herauskommt. Ein rechter Winkel – 90° - wäre eine typische Anwendung. Wenn man sich dieses nun vorstellt – Werkstück oben ins Werkzeug reindrücken und rechts an der Seite kommt es wieder raus – dann wird klar, dass im Werkzeug selbst das Werkstück eine Formänderung erfährt. Denn beim Fließen des Werkstoffes um die Ecke des Kanals wird die Länge des Werkstücks in der vertikalen Achse reduziert, während die geometrische Dimension in einer der anderen beiden Achsen zunimmt. Weil aber der Kanal am Ein- und Austritt des Werkzeuges geometrisch gleich ist, ist bei dem Werkstück vor und nach der Umformung keine geometrische Änderung feststellbar. Die Änderung der mechanischen Eigenschaften ist allerdings erheblich. Die hochgradig plastische Umformung führt zu einer Kaltverfestigung und zu einer Veränderung der Mikrostruktur des Gefüges. Dieses führt zu sehr guten statischen Festigkeiten und ermöglicht eine zyklische Belastbarkeit der Bauteile. Der Prozess beruht – unter idealen reibungsfreien Bedingungen – auf einfacher Scherung. Die Größe der Scherung kann durch die Geometrie der Abwinkelung – Kanal- und Öffnungswinkel - beeinflusst werden. Durch nachfolgende Wärmebehandlung können die mechanischen Eigenschaften Festigkeit und Duktilität weiter gesteigert werden. Und der Prozess lässt sich natürlich wiederholen, so dass die gewünschten Eigenschaften durch mehrere Pressschritte erreicht werden.
Das Gleichkanalwinkelpressen eignet sich folglich hervorragend, um die Rohteile für Herstellprozesse in ihren mechanischen Eigenschaften vorzubereiten und damit gezielt die Einsetzbarkeit von Werkstücken zu beeinflussen. Auch wenn einige umformtechnisch hergestellte Produkte den Veränderungen unserer Lebensweisen mit Blick auf den Klimawandel zum Opfer fallen werden, zeigt das Beispiel des Gleichkanalwinkelpressens, dass die Kenntnis der Zusammenhänge beim Umformen auch zukünftig in Betracht gezogen werden sollte. Und ein schönes Beispiel für Laborversuche mit Studierenden könnte es auch sein, bei dem man sich zuerst fragt, was dieser Unfug soll, bis man die Veränderungen der mechanischen Eigenschaften sichtbar macht.

geschrieben von Prof. Enno Stöver
eingesprochen von Prof. Enno Stöver