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ADHS

„DOM im Kopf“

Laut Studien lebt etwa 2,5 bis 5 Prozent der Erwachsenen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung – kurz ADHS. Wie ist es, mit dieser Erkrankung an unserer Hochschule zu studieren oder zu arbeiten? Wir haben mit zwei Mitarbeitenden und einem Studenten über ihre Erfahrungen und Wünsche mit dem Umgang von ADHS-Betroffenen gesprochen.

„Ich habe keinen Filter. Auf mich prasselt alles aus meiner Umgebung gleichzeitig ein“, sagt Gabriele Wienciers auf die Frage, wie es sich anfühlt, ADHS zu haben.

„Bei mir wurde ADHS erst im Erwachsenenalter diagnostiziert“, erzählt Lars Kalusky, der bereits seit sieben Jahren an der HAW Hamburg arbeitet – aktuell im GründungsService. „Doch schon als Kind war ich der klassische Zappelphilipp“. Heute ist er, zumindest nach außen hin, ruhiger. In seinem Kopf seien jedoch „immer mehrere Dateien offen“. Was er damit genau meint, beschreibt er anhand einer täglichen Situation: „Bin ich beispielsweise im Café verabredet, bekomme ich alle Gespräche gleichzeitig mit. Mich wirklich auf das Gespräch mit meinem Gegenüber zu konzentrieren, ist für mich unheimlich anstrengend.“ Das geht nicht nur ihm so. Viele Menschen, die an ADHS leiden, kämpfen daher noch mit anderen Co-Erkrankungen wie Depressionen oder Burnout. Der Alltag ist durch die vielen Sinneseindrücke, die parallel auf sie einprasseln, sehr anstrengend.

Doch was ist ADHS gnau? Ein Syndrom, eine Verhaltensstörung, eine Modekrankheit? Das Kürzel steht für Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörung. Typisch sind Konzentrationsstörungen, starke Impulsivität und Unruhe. Als Spektrum-Erkrankung gibt es allerdings unterschiedliche Ausprägungen: Es gibt Menschen, die mit der Erkrankung ohne Behandlung gut durch ihr Leben kommen, andere erleben dadurch in ihrem Leben viele Niederlagen und Misserfolge. Eine rein defizitorientierte Sichtweise wird den Betroffenen allerdings oft nicht gerecht, denn all diese Eigenschaften können sich beispielsweise auch in Flexibilität, Kreativität oder Resilienz ausdrücken. Diese Meinung vertritt auch Lars Kalusky. Er findet, man solle ADHS besser als besondere Form der Wahrnehmung und des Denkens betrachten – als so genannte „genetische Normvariante“. Dabei werden ADHSler nicht automatisch als krank betrachtet, sondern als gesunde Menschen mit besonderen Eigenschaften und Bedürfnissen.

Rechtzeitig mit einer Aufgabe anzufangen ist für mich unmöglich, längeres Zuhören leider auch

Bruno Langer, Student

Studieren mit ADHS

Bruno Langer studiert Food Science an der Fakultät Life Sciences. Im Januar sollte er seine Master-Arbeit abgeben. Eigentlich. „Das ist zeitlich kaum noch zu schaffen“, gibt er zu. Denn: Wie viele an ADHS Erkrankte hat auch er ein Problem mit Deadlines und Terminen. „Rechtzeitig mit einer Aufgabe anfangen ist für mich unmöglich, längeres Zuhören leider auch“, sagt er. Während des Studiums haben ihm Skripte der Vorlesungen geholfen, die er im Selbststudium durchgearbeitet hat, und Freunde, die ihn an Termine und Deadlines erinnert haben. „Was hilft, sind Werkzeuge, die sich jeder an ADHS Erkrankte selbst an die Hand geben muss“, sagt er. „Mir hilft zum einen Struktur und zum anderen Erinnerungen wie Notizen und Kalendereinträge.“ Ob sich etwas ändern müsste in der Lehre, damit auch Personen mit Konzentrationsdefiziten besser mitkommen? „Frontalunterricht ist wahrscheinlich nicht die beste Wahl“, sagt Bruno Langer. „Egal ob ADHS oder nicht.“

Zu anders?

Auch Gabriele Wienciers erhielt im Erwachsenenalter die Diagnose ADHS. Sie arbeitet erst seit kurzem an der HAW Hamburg, an der Fakultät DMI im Personalwesen. Anders als Lars Kalusky, der die Erkrankung auch als Stärke sehen kann, empfindet sie ihre Disposition durchaus als hinderlich: „Mein Leben lang habe ich gespiegelt bekommen: Du bist zu laut, Du bist zu viel, Du bist anders“, erzählt sie. Ihre Energie würde schnell als störend empfunden. „Das tut natürlich weh, bis heute.“

Sie hat ihre eigenen Strategien entwickelt, um im Job optimal zu funktionieren. Ihre Kolleg*innen wissen beispielsweise von ihrer Diagnose - Gabriele Wienciers  geht völlig offen damit um, ohne Angst vor Stigmatisierung. Dass sie anders arbeite als ihre Kolleg*innen, sei kein Problem: „Ich mache oft drei Dinge gleichzeitig, während meine Kollegen sich eben nur auf eine Sache konzentrieren und ein To-Do nach dem anderen abarbeiten“, sagt sie. Zum Ziel komme sie genauso gut – der Weg dahin sei einfach anders. Sport helfe ihr außerdem, runterzukommen und das Gefühl von Getriebenheit loszuwerden.

Da auch ihre Kinder an ADHS leiden, nimmt das Thema in ihrem Leben großen Raum ein. „Wir ticken einfach anders“, erklärt sie. Sie beschreibt ihre Wahrnehmung ähnlich wie Lars Kalusky. „Ich habe keinen Filter. Auf mich prasselt alles aus meiner Umgebung gleichzeitig ein“, erklärt Gabriele Wienciers . „Das fühlt sich ein wenig an, als wäre da ein Hamburger DOM in meinem Kopf mit all seinen Karussells, Autoscootern, Zuckerwattegeruch und lauter Musik. Und das die ganze Zeit“. Es erfordere ein großes Maß an Anstrengung, sich lediglich auf eine Sache zu konzentrieren.

Ist die Tätigkeit zu monoton, werde ich schnell gelangweilt und dann passieren viele Fehler

Lars Kalusky, Angestellter an der HAW Hamburg

Anders arbeiten

Nicht jeder Job eignet sich für ADHS-Betroffene. „Zahlen in ein Excel-Sheet einzutragen, fällt mir unheimlich schwer. Ich schaffe es ja kaum, fünf Minuten auf die Bahn zu warten“, sagt Lars Kalusky. „Ist die Tätigkeit zu monoton, werde ich schnell gelangweilt und dann passieren viele Fehler.“

Sein Job an der Hochschule ist daher nur einer von dreien – er ist außerdem noch Schauspieler und Standesbeamter und gibt obendrein noch Kommunikations- und Schauspielcoachings. „Diese Vielfalt kommt mir und meinem ADHS sehr entgegen“, sagt er. Er sieht seine Diagnose als Chance, seine Stärken besser auszuspielen. Interessiert ihn etwas sehr oder möchte er sich konzentriert einer Aufgabe widmen, komme er schnell in eine Art Hyperfokus. Viele ADHSler kennen diesen Zustand. Er könne dann stundenlang hochkonzentriert an einer Aufgabe sitzen. Dazu brauche er allerdings Ruhe – ein Großraumbüro mit vielen Menschen und einer ständigen Geräuschkulisse wäre für ihn nichts.

Medikamente

Medikamente können dabei helfen, innerlich ruhig zu werden, allerdings gehen die nicht ohne Nebenwirkungen einher. „Einmal habe ich das Ritalin meines Sohnes ausprobiert. In meinem Kopf war es auf einmal ganz still“, erzählt Gabriele Wienciers. Allerdings haben sie die Tabletten müde gemacht. Da kann sie ihren Sohn gut verstehen, der sie nicht nehmen möchte, da er mit ihnen keinen Sport machen kann und sie ihm seine Kreativität rauben. Bruno Langer sieht das ähnlich, er nimmt sie nur noch bei Bedarf, beispielsweise in der Prüfungsphase. „Mit den Medikamenten funktioniert man zwar gesellschaftlich besser, aber man ist nicht mehr ganz man selbst“, beschreibt Bruno Langer die Wirkung.

Mehr Awareness beim Thema ADHS

Wienciers wünscht sich, dass sich mehr Führungskräfte mit dem Thema auseinandersetzen würden. „Offen sein reicht schon – und in den Dialog gehen“, sagt sie. Jede*r an ADHS Erkrankte sei individuell. „Im Team die Stärken und Schwächen abzuklären, von allen, nicht nur von ADHS-lern, tut dem ganzen Team gut und sorgt für ein besseres Arbeitsklima und bessere Arbeitsergebnisse“, sagt sie.

Text: Tiziana Hiller

Mehr Informationen sowie Hilfe für Betroffene:

ADHS Deutschland e.V.
Selbsthilfe für Menschen mit ADHS

Ratgeber ADHS
Das Infoportal für Erwachsene mit ADHS

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