Die HAW Hamburg ist weltoffen und vielfältig, warum ist es dennoch wichtig, den Schutz vor Diskriminierung in einer Richtlinie festzuhalten?
Isabel Collien: Das Bekenntnis zur gegenseitigen Wertschätzung und der weltoffenen Haltung ist wichtig und ein Zeichen für alle, die hier studieren und arbeiten. Gleichzeitig müssen wir anerkennen, dass Diskriminierung auch im Hochschulalltag stattfindet. Dies erfolgt einerseits subtil und häufig unbewusst durch Äußerungen, wie „Wo kommst du her?“ oder „Du sprichst ja gut Deutsch“. Das sind dennoch rassistische Diskriminierungen, die der angesprochenen Person vermitteln, dass sie „irgendwie nicht dazugehört“. Und es gibt an der HAW Hamburg auch offensichtlichere Diskriminierung, zum Beispiel frauenfeindliche Sprüche in Seminaren oder sexualisierte Übergriffe.
Lynn Mecheril: Dass Diskriminierung nicht vor Hochschulen Halt macht, hat natürlich damit zu tun, dass die Institution Hochschule in der Gesellschaft verortet ist. Das heißt, dass die Strukturen, Prozesse und Logik von Diskriminierung tief verankert und die bestehenden gesellschaftlichen Normen und Vorstellungen auch an der Hochschule vorhanden sind. Wir haben aber eine Idee, wie die HAW Hamburg sein könnte. Und es mag ein langer Weg sein, aber wir können Strukturen anpassen und Veränderungen bewirken. Die Antidiskriminierungsrichtlinie ist ein wichtiges Instrument, um den Weg, den wir gehen wollen, zu festigen.
Es gibt doch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das in Hamburg auch für Studierende gilt. Warum brauchen wir dann überhaupt noch eine Antidiskriminierungsrichtlinie?
Lynn Mecheril: Das AGG ist ein Gesetz, das einen bestimmten rechtlichen Rahmen vorgibt. Die Richtlinien füllen diesen Rahmen mit Leben und helfen, das AGG im Alltag umzusetzen. Wir haben mit den Antidiskriminierungsrichtlinien ein Instrument, das niederschwellig deutlich macht, wie das AGG an der Hochschule umzusetzen ist.
Isabel Collien: Im AGG heißt es beispielsweise: Es braucht eine Beschwerdestelle. Das Gesetz richtet sich jedoch primär an Unternehmen. Aber Hochschulen funktionieren nicht wie Unternehmen. Wir müssen die Vorgaben folglich hochschulspezifisch ausbuchstabieren. Das tun wir mit unserer Richtlinie. Konkret heißt das beispielsweise, dass wir neben einer AGG-Beschwerdestelle für Beschäftigte auch eine für Studierende eingerichtet haben.
Lynn Mecheril: Wir müssen bei der Thematik neben den Hochschulmitgliedern, also Studierende, Doktorand*innen, Mitarbeitende und Lehrende auch die Tutoren*innen, Lehrbeauftragte und Externe wie Reinigungs- und Sicherheitspersonal, Besucher*innen und Mitarbeitende des Studierendenwerks mitdenken.
Isabel Collien: Außerdem berücksichtigt das AGG „nur“ sechs Diskriminierungsformen und steht dafür schon länger in der Kritik. Die Antidiskriminierungsrichtlinie beachtet neben Benachteiligungen aus rassistischen Gründen, wegen des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung auch Punkte wie soziale Herkunft, Sprache oder Familienstatus.
Soll die Antidiskriminierungsrichtlinie eher Verbesserungen oder Bestrafung bewirken?
Lynn Mecheril: Sie soll eine Verhaltensänderung und am besten eine Selbstreflexion bewirken. Deshalb gehen wir mit unserem System der Anlauf- und Beratungsstellen auch über die gesetzlichen Vorgaben der Einrichtung einer AGG-Beschwerdestelle hinaus. Letztere prüft, ob eine Diskriminierung nach dem AGG vorliegt und gibt Handlungsempfehlungen. Das genügt aber nicht als Motor zur Veränderung. Zumal viele Betroffene gar keinen, oft mühsamen, rechtlichen Weg gehen wollen. Manchmal geht es nur darum über Gespräche und Mediation eine Lösung zu finden.
Isabel Collien: Es geht, wie Lynn sagt, den Betroffenen oftmals nicht um Bestrafungen, sondern sie wollen Verbesserungen bewirken. Und das geht nur gemeinsam, wenn wir miteinander reden. Gleichzeitig muss aber deutlich gemacht werden, wann Grenzen überschritten werden. Diese liegen klar bei Belästigung, Gewalt und grundsätzlich menschenverachtendem, diskriminierendem Verhalten. Hier gilt es Stellung zu beziehen und da sind wir alle gefordert.
Lynn Mecheril: Häufig möchten Personen einen genauen Fahrplan, wie in Diskriminierungsfällen reagiert und agiert werden soll. Jedoch ist und bleibt jeder Fall individuell. Der Blick auf die Bedarfe von Betroffenen ist dabei am Wichtigsten.
Warum ist es gerade an einer Hochschule wichtig, das Thema Diskriminierung sichtbar zu machen und darüber zu diskutieren?
Isabel Collien: An der HAW Hamburg haben wir uns auf die Fahnen geschrieben, die Gestalter*innen der Zukunft auszubilden. Diese hoch komplexe, diverse Zukunft müssen wir daher selbst schon leben. Gleichzeitig sieht die Realität an Hochschulen oft noch anders aus. Dafür müssen wir uns die Geschichte anschauen: Woher kommen Hochschulen, wer sind die Gründer*innen? Sie wurden in der Regel von weißen Männern, in einem bestimmten Alter, ohne Sorgeaufgabe errichtet und waren lange Zeit auf diese Klientel ausgerichtet. Schauen wir auf unsere Studierenden, so sind sie heutzutage wesentlich diverser und auch im Verwaltungsbereich und bei den Lehrenden ist es langsam weniger homogen. Oftmals hinken unsere Strukturen, Prozesse und unsere Hochschulkultur aber noch dieser Vielfalt hinterher oder wirken gar ausschließend.
Lynn Mecheril: Ich möchte gerne noch ergänzen, dass Hochschulen als Bildungsinstitution bereits am Ende von Selektionsprozessen stehen. Die Kette von Diskriminierungen zieht sich durch den gesamten Bildungssektor, wenn beispielsweise am Ende überwiegend Studierende aus Akademiker*innen-Familien einen Masterabschluss machen. Es braucht daher gesamtgesellschaftliche Veränderungen und Reformen.
Was genau regelt die Antidiskriminierungsrichtlinie und an wen richtet sie sich?
Lynn Mecheril: Es werden vor allem zwei Aspekte geregelt: Auf der reaktiven Ebene geht es um Verfahren in Diskriminierungsfällen und was konkret getan werden kann. Und auf der Präventionsebene gibt die Richtlinie Vorschläge, was getan werden kann, damit Diskriminierung nicht geschieht oder gemindert wird. Außerdem zeigt die Richtlinie, was mit unterschiedlichen Diskriminierungsformen gemeint ist. Nur so kommen wir zu einem gemeinsamen Verständnis, welche Strukturen und Prozesse es an der HAW Hamburg gibt, die Diskriminierung fördern und wie wir präventiv entgegenwirken können. Mit Sensibilisierungsmaßnahmen, unseren „Respekt“-Broschüren, Schulungsangeboten und Workshops setzen wir schon Vieles um. Außerdem startet bald ein Dokumentationssystem, das festhält, was für Fälle bei den Beratungsstellen landen und was weiter damit geschieht. So können wir genauer Bedarfe und Handlungsmöglichkeiten erkennen und evaluieren.
Isabel Collien: Wir fangen sogar noch einen Schritt früher an, indem wir beispielsweise und Bewerber*innen – Studierende wie Mitarbeitende – darüber informieren, dass wir eine Antidiskriminierungsrichtlinie haben und leben. Da arbeiten wir eng mit dem Studierendensekretariat und dem Personalservice zusammen.
Was kann bei Diskriminierung an der HAW Hamburg getan werden?
Lynn Mecheril: Wer Diskriminierung erfahren hat, kann im ersten Schritt Rat bei einer unserer Anlauf- und Beratungsstellen finden. Diese loten gemeinsam mit den Betroffenen Handlungsoptionen aus, wie beispielsweise ein vermittelndes Gespräch gemeinsam mit einer Leitungsperson. Wenn es sich um Diskriminierungsgründe handelt, die vom AGG abgedeckt sind, können Betroffene auch Beschwerde bei der AGG-Beschwerdestelle einreichen, die den Fall prüft, Zeugen befragt, Stellungnahmen einholt und schließlich eine Empfehlung für ein weiteres Vorgehen ausspricht.
Isabel Collien: Für Betroffene ist es oft eine große Überwindung, die Diskriminierung überhaupt sichtbar zu machen. Uns ist daher wichtig, dass sie wissen, dass die Anlauf- und Beratungsstellen in ihrem Sinne handeln und stärkend wirken wollen. Gerade an Hochschulen gibt es etablierte Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse, die in den Beratungen berücksichtigt werden müssen.
Wie schaffen wir es, gemeinsam eine diskriminierungsfreie Hochschule zu werden?
Isabel Collien: Es muss ein Umdenken in den Köpfen stattfinden – Diskriminierung ist kein Einzelfall, sondern Teil des Grundsystems. Und wer beispielsweise als Student*in Diskriminierung an der HAW Hamburg erlebt, hat dadurch vielleicht einen Leistungsrückschritt, bricht im schlimmsten Fall das Studium ab und lässt den Frust über Social Media raus. So schadet Diskriminierung nicht nur den Betroffenen selbst massiv, sondern kann auch der Hochschule schaden und hat Auswirkungen auf wichtige Kennzahlen wie Studienabschlüsse.
Lynn Mecheril: Mit der Antidiskriminierungsrichtlinie stärken wir Betroffene, machen diskriminierende Strukturen sichtbar und gehen auch in den Diskurs. Wir müssen verstehen, dass Antidiskriminierung ein systemrelevantes Element ist. Um eine diskriminierungsfreie Hochschule zu gestalten, brauchen wir Ressourcen – personell und finanziell. Schon heute bieten viele Personen an der HAW Hamburg Beratung on-top an, also zusätzlich zum eigentlichen Job.
Isabel Collien: Wir schaffen es nur gemeinsam, eine diskriminierungsfreie Hochschule zu werden – das ist nicht nur ein Thema der Stabsstelle Gleichstellung. Und wer Ideen und Gesprächsbedarfe hat, kann gerne in Austausch mit uns kommen. Denn wir alle tragen Verantwortung.
Interview: Anke Blacha
Die Antidiskriminierungsrichtlinie (ADR) tritt am 23. September 2021 in Kraft, mit der ein respektvolle Umgang und der Schutz vor Diskriminierungen an der Hochschule festgehalten sind. die vollständige Richtlinie kann auf der Website der HAW Hamburg eingesehen werden. Studierende und Beschäftige finden auf der Website zudem Informationen und Beratungsstellen, sollten sie Diskriminierung an der Hochschule erfahren haben.