| Forschung
Epidemiologie

Wie verbreitet sich COVID-19?

Fieberhaft wird nach einem Impfstoff und wirksamen Medikamenten gegen das Corona-Virus gesucht. Weil bis zu einem medizinischen Durchbruch noch einige Monate vergehen könnten, versuchen Epidemiologen wie Prof. Dr. Ralf Reintjes derweil mehr über die Ansteckung und die Verbreitung von COVID-19 herauszufinden. Ihre Erkenntnisse haben dabei großen Einfluss auf unseren Alltag.

Prof. Ralf Reintjes, Epidemiologe in seinem Labor

Die Virologen sind derzeit so etwas wie die Popstars der Wissenschaft – mit eigenen Podcasts, gefragt als Interviewpartner oder Studiogäste. Aus jeder neuen Erkenntnis über das Corona-Virus und seine Eigenschaften wird eine Breaking-News. Eher im Schatten des öffentlichen Scheinwerferlichts liegt dagegen die Arbeit der Epidemiologen. Dabei könnte genau ihre Forschung die derzeit größten Auswirkungen auf unseren Alltag haben. „Wir Epidemiologen interessieren uns dafür, wie sich Menschen mit dem Corona-Virus infizieren und wie wir ihre Ansteckung möglichst gut verhindern können. Welche Risikofaktoren wirken sich hierbei besonders stark aus. Ein solches Wissen ist mindestens genauso wichtig wie jede neue Erkenntnis über das Virus selbst“, erklärt Dr. Ralf Reintjes, Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung an der HAW Hamburg.

Klassische Frage der Epidemiologie

Wie hoch ist das Risiko, dass ich mich über Türklinken oder den Einkaufswagen mit Corona infiziere? Bisher gibt es dazu kaum belastbare Daten, nur erste Indizien. So bleiben die offiziellen Ansteckungszahlen mit fast 1.000 neuen nachgewiesenen Corona-Patienten pro Tag konstant hoch und dass, obwohl viele Geschäfte und öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Kitas oder Bibliotheken lange geschlossen waren und außerfamiliäre Kontakte vermieden werden sollen. Das spricht dafür, dass auch zum Beispiel beim Gang in den Supermarkt oder beim Joggen die Gefahr einer Ansteckung besteht.

Eine andere Frage, die den Hamburger Epidemiologen im Moment umtreibt, ist die nach der Art der Ansteckung und ihren Einfluss auf den Krankheitsverlauf. Warum verläuft die Corona-Erkrankung bei vielen Menschen symptomfrei oder sehr mild und bei anderen so stark, dass sie oft über Wochen auf der Intensivstation behandelt werden müssen oder sogar versterben? Es gibt erste Anzeichen dafür, dass nicht nur Risikofaktoren wie Alter oder Vorerkrankungen von Herz und Lunge dafür verantwortlich sind, sondern auch die Art der Ansteckung. So berichtet die BBC dieser Tage sehr intensiv über schwere Krankheitsverläufe bei oft jungen Pflegekräften und Ärzten in Großbritannien. Ähnliche Berichte gab es auch aus dem chinesischen Wuhan. Das spricht aus Sicht von Reintjes dafür, dass es durchaus einen Unterschied macht, wie intensiv der Kontakt zu einem Corona-Patienten war.

Lockerungen brauchen eine wissenschaftliche Basis

Doch bei all den offenen Fragen gibt es seiner Sicht nach auch gute Nachrichten. „Durch Abstandhalten, Händewasche und sorgsame Hygiene lässt sich der Krankheit offenbar ganz gut begegnen – jedenfalls solange es noch keinen Impfstoff oder verlässliche Medikamente gibt. Wenn wir jetzt noch wüssten, wo das größte Risiko für eine Ansteckung besteht, wären wir im Umgang mit Corona einen großen Schritt weiter“, erklärt Reintjes. Diese Erkenntnisse könnten ganz entscheidenden Einfluss auf unser Leben in den nächsten Wochen und Monaten haben. Bislang wurden nämlich die meisten Entscheidungen über Schließungen und Lockerungen vor allem auf Basis von Vermutungen getroffen.

Beispiel

Während einer Influenza-Welle sind Schulen und Kindergärten stark an der Ausbreitung beteiligt – die Kinder stecken Pädagogen, Eltern, sich untereinander an. Weil ähnliches auch bei der Corona-Pandemie befürchtet wurde, war die Schließung von Kitas und Schulen nur logisch und richtig. Ob aber Kinder wirklich eine so große Rolle bei der Übertragung spielen, wissen die Forscher bislang nicht. Nachdem schon länger bekannt ist, dass die Krankheit bei ihnen deutlich milder verläuft, gibt es nun erste zaghafte Anzeichen dafür, dass sie vielleicht auch einen eher geringeren Einfluss auf die Zahl der Neuinfektionen haben könnten als anfangs angenommen. Gebe es aber verlässliche Aussagen zum Risiko, wäre eine Entscheidung über die Öffnung der Kitas und Schulen deutlich leichter. Auch die Akzeptanz in der Bevölkerung für die politische Entscheidung wäre deutlich höher.

Dieses Beispiel zeigt anschaulich, wie wichtig Wissen über gefährliches und ungefährliches Verhalten in Zeiten der Corona-Pandemie ist. Gerade weil ein dauerhafter Lockdown bis zur Entwicklung eines Impfstoffes oder auch nur wirksamer Medikamente keine Option ist, brauchen wir neue Konzepte für unseren Alltag und zwar auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Aus diesem Grund starten gerade gleich mehrere Studien zum Ansteckungspotential von Kindern. Erste Erkenntnisse werden dringend erwartet. Parallel dazu beraten Politik und Pädagogik über mögliche Konzepte zur schrittweisen Öffnung mit kleinen Gruppen, tageweiser Betreuung und Schichtbetrieb. Auch solche Ansätze müssten aus Sicht von Reintjes in der Umsetzung wissenschaftlich begleitet werden. Zum Beispiel könnte man mit aussagekräftigen methodisch gut konzipierten epidemiologischen Studien untersuchen, ob Familien, die die Kinderbetreuung in den nächsten Monaten in Anspruch nehmen, häufiger von Corona-Infektionen betroffen sind als Familien, die ihre Kinder zu Hause behalten.

Die Gefahr der zweiten Welle ist bei voreiliger Lockerung sehr groß

Ohne solche Erkenntnisse gleicht jede Lockerung einer Autofahrt bei starkem Nebel. Es kann gut gehen, kann aber auch richtig knallen. Vor letzterem warnen derzeit viele Epidemiologen. „Wir alle sind genervt von der Situation und wünschen uns nichts sehnlicher als Normalität. Doch genau die hätte im Moment einen hohen Preis“, sagt Reintjes. Und zwar droht dann eine zweite Infektionswelle, mit Ausbrüchen in ganz Deutschland und nicht nur in einzelnen Regionen und ein sprunghafter Anstieg der Erkrankungen. Für die Gesundheitsämter wäre es deutlich schwieriger Infektionswege ausfindig zu machen und Kontaktpersonen der Patienten zu isolieren.

Eine solche Situation wäre deutlich schwerer zu kontrollieren als noch heute und ein Ausmaß der Corona-Pandemie wie in New York, China oder Norditalien auch in Teilen von Deutschland denkbar – mit vielen Toten, einer starken Beanspruchung unserer Klinken und immensen Kosten für das Gesundheitssystem und die Wirtschaft. „Mir persönlich wäre es lieber, wenn es uns gelänge, die Corona-Infektionen bis zur endgültigen Entwicklung eines Impfstoffes auf einem händelbaren Niveau zu halten. Dieser Weg ist zwar langwierig und beschwerlich, dafür können ihn mehr Menschen auch bis zum Ende der Epidemie mitgehen“, sagt Reintjes. An eine Zeit ohne Corona glaubt der Epidemiologe übrigens nicht. Wahrscheinlicher sei es, dass die Erkrankung irgendwann den Status einer Art regelmäßigen Grippewelle bekommt. Umso wichtiger ist es, Risikofaktoren für die Übertragung des Virus genau zu kennen, da wir alle mit dem Virus wohl noch lange leben müssen.
(Autor: Birk Grüling)

Über Professor Dr. Ralf Reintjes:

Ralf Reintjes ist Professor für Epidemiologie und Surveillance an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und hat eine Professur für Infektionsepidemiologie an der Universität Tampere, Finnland. Professor Reintjes war bereits als Berater für die WHO, die EU, die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) sowie weitere Organisationen in zahlreichen europäischen, afrikanischen und asiatischen Ländern tätig. Er war Fellow des European Programme for Intervention Epidemiology Training (EPIET) beim Nationalen Institut für Volksgesundheit und Umwelt (RIVM) der Niederlande, Leiter des Referats für Hygiene, Infektionskrankheitenepidemiologie und Impfwesem beim Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst des Landes Nordrhein-Westfalen (LÖGD) und Leiter der Emerging Risks Unit bei der Europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörde (EFSA) in Parma, Italien. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen in den Bereichen Epidemiologie, Surveillance und Policy Research.

Hier geht es zu seinem Profil

Kontakt

Fakultät Life Sciences
Prof. Dr. Ralf Reintjes
Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung
Tel. 040.428 75-7211 /-6104
ralf.reintjes (at) haw-hamburg (dot) de

x