Lockerungen brauchen eine wissenschaftliche Basis
Doch bei all den offenen Fragen gibt es seiner Sicht nach auch gute Nachrichten. „Durch Abstandhalten, Händewasche und sorgsame Hygiene lässt sich der Krankheit offenbar ganz gut begegnen – jedenfalls solange es noch keinen Impfstoff oder verlässliche Medikamente gibt. Wenn wir jetzt noch wüssten, wo das größte Risiko für eine Ansteckung besteht, wären wir im Umgang mit Corona einen großen Schritt weiter“, erklärt Reintjes. Diese Erkenntnisse könnten ganz entscheidenden Einfluss auf unser Leben in den nächsten Wochen und Monaten haben. Bislang wurden nämlich die meisten Entscheidungen über Schließungen und Lockerungen vor allem auf Basis von Vermutungen getroffen.
Beispiel
Während einer Influenza-Welle sind Schulen und Kindergärten stark an der Ausbreitung beteiligt – die Kinder stecken Pädagogen, Eltern, sich untereinander an. Weil ähnliches auch bei der Corona-Pandemie befürchtet wurde, war die Schließung von Kitas und Schulen nur logisch und richtig. Ob aber Kinder wirklich eine so große Rolle bei der Übertragung spielen, wissen die Forscher bislang nicht. Nachdem schon länger bekannt ist, dass die Krankheit bei ihnen deutlich milder verläuft, gibt es nun erste zaghafte Anzeichen dafür, dass sie vielleicht auch einen eher geringeren Einfluss auf die Zahl der Neuinfektionen haben könnten als anfangs angenommen. Gebe es aber verlässliche Aussagen zum Risiko, wäre eine Entscheidung über die Öffnung der Kitas und Schulen deutlich leichter. Auch die Akzeptanz in der Bevölkerung für die politische Entscheidung wäre deutlich höher.
Dieses Beispiel zeigt anschaulich, wie wichtig Wissen über gefährliches und ungefährliches Verhalten in Zeiten der Corona-Pandemie ist. Gerade weil ein dauerhafter Lockdown bis zur Entwicklung eines Impfstoffes oder auch nur wirksamer Medikamente keine Option ist, brauchen wir neue Konzepte für unseren Alltag und zwar auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Aus diesem Grund starten gerade gleich mehrere Studien zum Ansteckungspotential von Kindern. Erste Erkenntnisse werden dringend erwartet. Parallel dazu beraten Politik und Pädagogik über mögliche Konzepte zur schrittweisen Öffnung mit kleinen Gruppen, tageweiser Betreuung und Schichtbetrieb. Auch solche Ansätze müssten aus Sicht von Reintjes in der Umsetzung wissenschaftlich begleitet werden. Zum Beispiel könnte man mit aussagekräftigen methodisch gut konzipierten epidemiologischen Studien untersuchen, ob Familien, die die Kinderbetreuung in den nächsten Monaten in Anspruch nehmen, häufiger von Corona-Infektionen betroffen sind als Familien, die ihre Kinder zu Hause behalten.
Die Gefahr der zweiten Welle ist bei voreiliger Lockerung sehr groß
Ohne solche Erkenntnisse gleicht jede Lockerung einer Autofahrt bei starkem Nebel. Es kann gut gehen, kann aber auch richtig knallen. Vor letzterem warnen derzeit viele Epidemiologen. „Wir alle sind genervt von der Situation und wünschen uns nichts sehnlicher als Normalität. Doch genau die hätte im Moment einen hohen Preis“, sagt Reintjes. Und zwar droht dann eine zweite Infektionswelle, mit Ausbrüchen in ganz Deutschland und nicht nur in einzelnen Regionen und ein sprunghafter Anstieg der Erkrankungen. Für die Gesundheitsämter wäre es deutlich schwieriger Infektionswege ausfindig zu machen und Kontaktpersonen der Patienten zu isolieren.
Eine solche Situation wäre deutlich schwerer zu kontrollieren als noch heute und ein Ausmaß der Corona-Pandemie wie in New York, China oder Norditalien auch in Teilen von Deutschland denkbar – mit vielen Toten, einer starken Beanspruchung unserer Klinken und immensen Kosten für das Gesundheitssystem und die Wirtschaft. „Mir persönlich wäre es lieber, wenn es uns gelänge, die Corona-Infektionen bis zur endgültigen Entwicklung eines Impfstoffes auf einem händelbaren Niveau zu halten. Dieser Weg ist zwar langwierig und beschwerlich, dafür können ihn mehr Menschen auch bis zum Ende der Epidemie mitgehen“, sagt Reintjes. An eine Zeit ohne Corona glaubt der Epidemiologe übrigens nicht. Wahrscheinlicher sei es, dass die Erkrankung irgendwann den Status einer Art regelmäßigen Grippewelle bekommt. Umso wichtiger ist es, Risikofaktoren für die Übertragung des Virus genau zu kennen, da wir alle mit dem Virus wohl noch lange leben müssen.
(Autor: Birk Grüling)
Über Professor Dr. Ralf Reintjes:
Ralf Reintjes ist Professor für Epidemiologie und Surveillance an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und hat eine Professur für Infektionsepidemiologie an der Universität Tampere, Finnland. Professor Reintjes war bereits als Berater für die WHO, die EU, die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) sowie weitere Organisationen in zahlreichen europäischen, afrikanischen und asiatischen Ländern tätig. Er war Fellow des European Programme for Intervention Epidemiology Training (EPIET) beim Nationalen Institut für Volksgesundheit und Umwelt (RIVM) der Niederlande, Leiter des Referats für Hygiene, Infektionskrankheitenepidemiologie und Impfwesem beim Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst des Landes Nordrhein-Westfalen (LÖGD) und Leiter der Emerging Risks Unit bei der Europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörde (EFSA) in Parma, Italien. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen in den Bereichen Epidemiologie, Surveillance und Policy Research.
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