046-Spanwurzel

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Transkript

Es ist Zeit für ein wenig Fertigungstechnik. Wie schon in einer Vorgängerfolge angedeutet wollen wir uns in einigen Episoden unseres Podcasts auch mit den vier Zerspanbarkeitskriterien beschäftigen, also der Spanbildung, der Oberflächenausprägung des Werkstücks, dem Werkzeugverschleiß und den Belastungen der Werkzeugschneide. Heute starten wir mit dem Thema Spanbildung.
Als Einstieg in dieses Thema kann sich eine simple Frage anbieten: „Was ist die eigentliche Aufgabe des Zerspanprozesses?“. Eine der vielen möglichen Antworten auf diese sehr offen gestellte Frage könnte so lauten: „Das Rohteilmaterial, welches nicht für das gewünschte Endbauteil benötigt wird, also quasi überflüssig ist, soll durch den Zerspanprozess unter Einsatz zweckentsprechend ausgewählter Werkzeuge abgetrennt, sprich vom Rohteil entfernt werden“. Das abgetrennte Material liegt dann in Form der Späne vor, die aus der Maschine entfernt werden müssen. I.d.R. landen sie im Spänekasten, irgendwo neben der Maschine. Ist dieser voll, so wird er entleert und die Späne, wenn alles gut läuft, recycelt.
Im Zuge des Zerspanprozesses werden also Späne gebildet, wobei sich die Frage stellt, was während dieser „Spanbildung“, also während des „Geburtsvorgangs“ des Spans, an der Schneide passiert. Aufgrund der vielschichtigen und zudem äußerst schnell stattfindenden mechanischen, thermischen und auch chemischen Vorgänge nahe der sog. „Spanwurzel“ – eine in der Forschung verwendete Bezeichnung des Bereichs um die Schneide – kann ein Antwortversuch sehr schnell einen hohen Komplexitätsgrad aufweisen, und sogar ganze Bücher füllen. Wir haben natürlich nur endlich viel Zeit. Vorschlag also, dass wir einfach einmal versuchen, einem Teilchen des Rohmaterials auf seinem Weg durch die erwähnte Spanwurzel zu folgen. Dieses Rohmaterialteilchen nenne ich einfach mal „Egon“.
Egon befindet sich oberhalb der Schneide, mitten im Spanungsquerschnitt, der von der Schnitttiefe und dem Vorschub aufgespannt wird. Er ist von seinen Bruder- und Schwesterteilchen umgeben, sei unverformt, und fühlt sich frisch und pudelwohl. So nähert er sich entspannt mit Schnittgeschwindigkeit der Schneide. Gelangt Egon nun in die Nähe des Werkzeugs, so verspürt er auf einmal einen unbehaglichen Spannungsanstieg. Seine vor ihm befindlichen Bruder- und Schwesterpartikelchen stauen sich nämlich vor der Spanfläche der Schneide, die sich ihnen in den Weg stellt. Die Schneide ist starr, fest – sie steht im Weg. Die Partikelchen oberhalb der Schneide fangen also an, nervös ihre Ausgangsformation zu verlassen. Eng gedrängt beginnen sie, sich leicht aneinander vorbeizubewegen. Es entsteht Stress in ihren Reihen. Durch innere Reibung der Partikelchen aneinander steigt die Temperatur merklich an.
Aus gewisser Distanz spürt auch Egon diesen Spannungsanstieg und Wärmeeintrag, der durch die beginnende Verformung seiner ihm vorauseilenden Brüder und Schwestern entsteht. Noch kommt Egon nicht ins Schwitzen, was sich aber rapide ändert, als er in die Nähe der sog. Scherzone kommt, die seine Vorgänger*innen bereits durchlaufen haben. Die räumlich recht komplexe Scherzone wird gerne zu einer einfachen Ebene abstrahiert - der sog. Scherebene. Die Scherebene erstreckt sich von der Schneidkante unter einem bestimmten Winkel hin zur Rohteiloberfläche, wobei der Winkel zwischen der Scherebene und der Werkzeug-Schneidenebene als „Scherwinkel“ bezeichnet wird. Auf die Bedeutung des Scherwinkels für die Spanbildung gehen wir in einer der nächsten Folgen noch ein.
Nachbarn von Egon, die das Pech haben, in eine kleine Zone in unmittelbarer Schneidennähe zu geraten, werden dort durch immense Spannungen belastet. Die Schneide pflügt durch die Schar der Partikelchen wie ein Eisbecher durch Packeis. Sie reißt benachbarte Partikelchen regelrecht voneinander weg. Ihre Kraft, sich aneinander festzuhalten, reicht nicht aus, und sie werden im Gedränge voneinander getrennt. Dies ist der Grund dafür, dass diese kleine Zone in Schneidennähe als „Trennzone“ bezeichnet wird. Hier entscheidet sich, welche Partikelchen a) im Rohteil verbleiben, und welche b) durch die Scherzone wandern und als Span das Rohteil verlassen. Die Analogie „Eisbrecher durch Packeis“ passt schon ganz gut.
Zu den letzteren gehört Egon, der nun in der Scherebene im Strom der benachbarten Partikel gezwungen wird, seine Richtung zu ändern. Durch die nachströmenden Partikel erfährt Egon einen sehr hohen Druck, so dass er gestaucht wird. Ihm bleibt nur ein Weg zu entkommen, und zwar in die Richtung, in der er den geringsten Widerstand verspürt. Dies ist nicht die Richtung aus der er gekommen ist: Hier drängen zu viele Partikelchen mit Schnittgeschwindigkeit nach. Dies ist auch nicht die Richtung, in der sich das Werkstück befindet: Dieser Weg wird schlicht und einfach durch die undurchdringliche Masse des Werkstücks versperrt. Es bleibt nur die Richtung in den Maschineninnraum, entlang der Spanfläche des Werkzeugs, über die er nun mit seinen Nachbar*innen abgleitet.
Egon wird also durch die nachströmenden Partikel von oben und die Werkzeugspanfläche von unten, in eine Art Zange genommen. Er wird gestaucht. Gleichzeitig fängt er an, über die Spanfläche in Richtung Maschineninnenraum auszuweichen. In Konsequenz dieser beiden Vorgänge wird Egon verzerrt. Er wird geschert. Diese Scherung ist auch der Grund für die Namensgebung der Scherzone, in der die sog. „primäre Scherung“ der Partikelchen stattfindet. Egons ehemalige Gestalt ist danach kaum mehr wiederzuerkennen. Hätte Egon vorher die quadratische Form einer bekannten Schokolade gehabt – als „quadratisch, praktisch, gut“ – so würde er nun wie ein Salino-Lakritz aussehen. Entschuldigen Sie den platten Vergleich. Er passt aber einigermaßen.
Zurück in die Spanwurzel. Egon und Nachbarpartikel von Egon, die die Trenn- und Scherzone durchlaufen haben, konnten ihre Transformation zum Span trotz der bisherigen Strapazen noch nicht abschließen. Nach Verlassen der Scherzone haben sie nun das Pech, weiterhin in Kontakt mit der Spanfläche des Werkzeugs zu stehen. Sie erfahren dort aufgrund des Drucks ihrer von oben auf die Schneide prallenden Nachbar*innen, in Kombination mit dem Abgleiten an der Werkzeugoberfläche, Reibung. Und zwar sehr immense Reibung, die die Partikel in Nähe der Spanfläche zusätzlich schert. Von daher nennt man diese Zone an der Spanunterseite auch die „sekundäre Scherzone“. Durch die Reibungswäre steigen die Temperaturen hier stark an. Mit teils über 1000°C liegen sie noch über denen, die in der primären Scherzone auftreten. Die Kombination aus hoher mechanischer Belastung und den hohen Temperaturen bewirkt letztlich, dass die innere Struktur der Partikelchen in der sekundären Scherzone nahezu unkenntlich gemacht, quasi pulverisiert, wird. Um eine kleine Vorstellung über die Drücke in der Spanwurzelzone zu geben: Eine nicht unübliche spezifische Schnittkraft von kc = 3000 N/mm² entspricht umgerechnet einem Druck von 30.000 bar. Dies wiederum entspricht dem Druck einer 300 km hohen Wassersäule. In aller Kürze: Egon hat also einiges mitgemacht.
Andere Nachbarn von Egon, die sich an der Oberfläche des Rohteils befunden haben, werden in der Scherebene zwar auch geschert, jedoch werden sie im Vergleich zu den Brüdern und Schwestern, die die sekundäre Scherzone auf der Spanfläche, also der Spanunterseite mit ihren hohen Drücken und Temperaturen durchlitten haben, weit moderater belastet. So kommen sie eventuell sogar in Kontakt mit einem Kühlschmierstoff, der ihnen die durch die Scherung aufgebürdete Umformwäre entzieht. Dies spüren natürlich auch angrenzende Teilchen in Richtung Spaninneres. Wir erkennen also, dass die Partikel im Span, in Abhängigkeit von ihrer Position, teils deutlich unterschiedliche Bedingungen vorfinden.
Wie auch immer, Egon und seine Nachbar*innen entfernen sich nun als heißer Span aus dem Einflussbereich der Schneide, kühlen ab und nehmen in Abhängigkeit von den nachfolgenden, erneut sehr komplexen werkstoffmechanischen, chemischen und thermomechanischen Vorgängen, ihre finale Form an. Das Phänomen, dass sich ein erhitzter Körper während der Abkühlung verformt, kennen wir übrigens z.B. aus dem Flammrichten von Stahlkonstruktionen. Hier wird das Bauteil örtlich stark erwärmt, und infolge der Wärmedehnungen tritt dann eine in der Regel gewünschte Formänderung auf. Die Formänderungen bei der Spanbildung sind noch komplexer.
Wie wir aus diesen Schilderungen ansatzweise erahnen können, haben Zerspanen und Umformen viel miteinander zu tun. Es gibt deutliche Parallelen. Die mechanischen Eigenschaften des Spans haben sich im Vergleich zu denen des Rohmaterials signifikant geändert. Makroskopisch gesehen heißt das, dass das Material des Spans als Ganzes stark deformiert ist. Daher ist es härter und auch spröder als das Ausgangsmaterial. Dieses Phänomen kennen wir aus der Umformtechnik. Bei einer Umformung erhöht sich die Versetzungsdichte, wodurch die Festigkeit zu- und die Zähigkeit abnimmt. Mit Blick auf Egon – also mikroskopisch gesehen – konnten wir gerade zusätzlich herleiten, dass die innere Struktur des Spans inhomogen ist, da das Material bei der Spanbildung ortsabhängig unterschiedlichen Temperaturen, Umformgraden, Umformgeschwindigkeiten und Umgebungsbedingungen ausgesetzt war.
Hieraus lässt sich schließlich folgern, dass sich je nach zerspantem Material und in Abhängigkeit der Werkzeug-, Prozess- und Umgebungsparameter unterschiedliche Späne bilden müssen und auch werden, die sich hinsichtlich ihrer Art und Form unterscheiden. Ein Griff in den oben bereits erwähnten Spänekasten bestätigt diese Annahme. Dies möchte ich in einer kommenden Folge zum Thema Spanbildung aufgreifen. Die in dieser Folge betrachtete kleine Reise von Egon durch den Bereich der Spanwurzel soll dabei als Startgrundlage dienen. Ich freue mich auf das Wiederhören hier in „Fertigungstechnisch“ und wünsche Ihnen bis dahin alles Gute.

 

 

geschrieben von Dietmar Pähler
eingesprochen von Dietmar Pähler