Digitalisierung in Vietnam: Die Transformation im Blick

Nicht nur in Deutschland ist die Digitalisierung in aller Munde und wird als Kernaufgabe zur Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft angesehen. Die vietnamesische Regierung hat die Dimension einer digitalen Transformation ebenso verstanden und sich ein ambitioniertes Ziel gesetzt: bis 2030 sollen Verwaltung und Wirtschaft des Landes umfassend digitalisiert und Vietnam zu einem führenden Technologieland werden.

Eine E-Wallet-App benutzen? Bezahlen per QR-Code? 120 Gigabyte Datenvolumen im Monat, 4 Gigabyte pro Tag und das alles für nur 5€? Ich muss gestehen, diese Dinge waren mir bis vor kurzem doch relativ fremd und geradezu unvorstellbar – besonders, wenn man gerade aus dem bargeldverrückten Deutschland kommt. Doch Vietnam zeigt, dass Entwicklung und Anwendung digitaler Technologien in stetigem Tempo voranschreiten.

Vietnam war die vergangenen zwei Jahrzehnte hindurch nicht nur ein dynamisches Land, sondern konnte selbst in den letzten Krisenjahren trotz Pandemie, Ukrainekrieg und Klimawandel ein stabiles und stetiges Wachstum der Wirtschaft vorweisen. Allein in den letzten 20 Jahren war ein durchschnittliches Wachstum von ungefähr 6 Prozent eine verlässliche Triebfeder für Vietnams Entwicklung. Doch der Aufbau von Industrie und exportierendem Gewerbe allein bedeutet nicht gleich Fortschritt. Auch die vietnamesische Staatsführung hat die Herausforderungen der digitalen Transformation hin zu einer umfassend digitalisierten Gesellschaft als Schlüsselaufgabe der jetzigen Epoche verstanden und sieht den Weg der digitalen Transformation auch als einen Weg zur Verwirklichung der UN Development Goals.

Vietnams Masterplan zur digitalen Transformation

In einem Regierungsbeschluss von 2020 hat die vietnamesische Staatsführung die Richtung auf dem Pfad der digitalen Entwicklung vorgegeben. Der ambitionierte Plan beinhaltet eine Reihe von Zielen, die auf eine digitale Transformation (auf Vietnamesisch: Chuyển đổi số hóa) des Landes bis 2030 hinarbeiten. Diese Ziele lassen sich grob in die Bereiche Verwaltung und Wirtschaft einteilen.

Im Bereich Verwaltung strebt die vietnamesische Staatsführung eine umfassende und nachhaltige Transformation staatlicher Einrichtungen sowie administrativer Dienstleistungen im Sinne des E-Government Development Index (EDGI) der UN an. Im neuerschienenen Bericht des EDGI vom September 2022 erreichte Vietnam Platz 86 und hielt damit dieselbe Position wie 2020. Mit einem Wert von 0,67 liegt Vietnam damit leicht über dem globalen Durchschnitt und ist Teil der Gruppe der höher entwickelten Länder (High EDGI). Deutschland liegt im Vergleich dazu im Jahr 2022 auf Platz 22 und ist Teil der Gruppe Very High EGDI. Eines der Ziele der vietnamesischen Regierung ist es, bis 2030 unter den Top 4 der ASEAN-Staaten sowie unter den Top 50 führenden Staaten des EDGI zu sein.

Im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung sieht die Regierung vor allem die Potenziale in der Anwendung von digitalen Schlüsseltechnologien. Zu diesen Schlüsseltechnologien werden AI, Blockchain sowie AR bzw. VR gezählt. Die Notwendigkeit der Förderung von Investitionen in das vietnamesische Bildungssystem sollen daher besonders diese Bereiche und Forschungsfelder betreffen, aber auch verwandte Bereiche, wie Data Science, Big Data, Cloud Computing, Internet of Things (IoT) und 3D-Printing.

Die Chance zur digitalen Transformation für Vietnams Wirtschaft sieht die Regierung in der Transformation von einer derzeit mehrheitlich produzierenden und assemblierenden Wirtschaft hin zu einer Wirtschaft mit einem eigenen, starken Tech- und Digitalgewerbe. Bereits heute haben sich erste große vietnamesische Tech-Unternehmen wie VNG (Gaming), VNPay (Fintech), MoMo (E-Wallet) und NFT (Gaming und Metaverse) herausgebildet, aber auch staatseigene Telekommunikationsunternehmen wie Viettel und VNPT sind große Träger und Treiber der digitalen Transformation in Vietnam.

Gerade durch die Verbreitung und Zugänglichkeit von neuen digitalen Technologien, werden Grundlagen für Vietnams eigene Startup-Kultur geschaffen – eine Kultur bzw. Bewegung, die die großen Städte erfasst hat und die selbst die Pandemie nicht stoppen konnte: lag die Zahl erfolgreicher vietnamesischer Startups zu Beginn der Covid-Pandemie noch bei ca. 1.600, so liegt sie heute im post-Covid Vietnam bereits bei über 3.000.

In dieser Entwicklung sieht Hanoi das Potenzial, um die doch recht ambitionierten wirtschaftlichen Ziele der Transformation zu erreichen: bis 2030 soll der Beitrag des digitalen Gewerbes zum BIP Vietnams bei 30 Prozent liegen; der Anteil digitaler Technologien soll in allen Bereichen der Wirtschaft mindestens 20 Prozent betragen; und ein jährliches Produktivitätswachstum von mindestens 8 Prozent soll erreicht werden. Die neue digitale Wirtschaft soll die Triebfeder eines weiterhin starken Wachstums sein.

E-Government und zivile Services

Im Sinne dieser Ziele sollen laut Regierungsbeschluss bis 2030 100 Prozent aller administrativen Dienstleistungen für die Bürger*innen digital angeboten werden und zu erledigen sein. Für diesen Zweck wurde beispielsweise die App VNeID entwickelt, die mit dem Nationalen Datenzentrum der Bevölkerung (Trung tâm Dữ liệu Quốc gia về Dân cư) verbunden ist und von der Beantragung und Ausstellung einer digitalen ID, über Sozialversicherung, Gesundheit und Steuern, bis hin zur Anmeldung eines Fahrzeugs alle 227 ziviladministrativen Services in einer App versammeln soll. Bisher ist die Nutzung dieser App jedoch mit knapp mehr als 11 Millionen Nutzer*innen sowie anderer Online-Portale der Regierung noch wenig weit verbreitet und muss weiter an die Benutzer*innenbedürfnisse angepasst werden, um effektiver und attraktiver zu wirken.

Doch die Digitalisierung soll nicht nur in der Interaktion zwischen Staat und Bürger Einzug halten, sondern vor allem auch die Interaktion und Kooperation verschiedener staatlicher Stellen untereinander erleichtern. Für dieses Ziel sollen bereits bis 2025 100 Prozent der staatlichen Dokumente (z.B. Formulare, Berichte, Statistiken etc.) und Daten digital erfasst, verfügbar und über einen allgemeinen Zugang staatlicher Behörden abrufbar sein.

Vietnams Internetausbau: Von 4G zu 5G

Die zentrale Infrastruktur und Basis einer jeden digitalen Transformation ist der Ausbau des Internets. In diesem Aspekt kann Vietnam eine beeindruckende Entwicklung vorweisen. Von den Bergen und Tälern Sapas bis zu den Flussarmen und schwimmenden Märkten des Mekongdeltas: fast überall in Vietnam kann einem heutzutage ein guter und kostengünstiger Zugang zum Internet gewährleistet werden – und wenn nicht über einen Breitbandanschluss, dann zumindest über mobile Geräte.

Wie in nur wenigen Schwellenländern sind in Vietnam Geschwindigkeit und Zugang zum Internet sogar weitaus besser als in manch einem Industrieland. Im Jahr 2022 besaßen jedoch nur ca. 19 Millionen Menschen bzw. Haushalte in Vietnam einen festen Breitbandanschluss zu Hause. Der Ausbau von schnellem Breitbandinternet steht also noch am Anfang. Im Gegensatz dazu ist die Bedeutung von mobilem Internet in Vietnam umso größer. Wer schon einmal in Vietnam war, weiß, dass so gut wie jede Person oder zumindest fast jeder Haushalt in Vietnam ein Handy besitzt. Die Zahl der Abonnements von mobilem Internet belief sich im Oktober 2021 laut dem vietnamesischen Ministerium für Information und Kommunikation auf 71 Millionen. Mit einer großflächigen Abdeckung der größten Anbieter wie Viettel, Vinaphone und MobiFone ist über Vietnam bereits ein breitflächiges 4G-Netz gespannt, während in den Metropolregionen bereits am Ausbau des 5G-Netzes gearbeitet wird.

Damit ist dem Großteil der vietnamesischen Bevölkerung, auch in entlegeneren Bergregionen, ein Zugang zu 3G- und 4G-Internet zu erschwinglichen Preisen ermöglicht. Aus Sicht der vietnamesischen Regierung sind das Handy und andere mobile Geräte „Hauptinstrument der Bürger in der digitalen Welt“. Somit stehen besonders die Bürger im Zentrum der Transformation.

Zwischen Covid-19 und Digitalisierung: Die Pandemie als Treiber

Nicht nur in Deutschland, auch in Vietnam hat die Pandemie unvorhergesehene positive Nebenwirkungen entfaltet, die im Transformationsprozess hin zu einer digitalen Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen. Um auf virtuellem Wege Unterricht, Vorlesungen, Seminare und gar Konferenzen von nationaler Tragweite abhalten zu können, griff man auf die Videosoftware Zoom zurück. Als Bargeld zu einem Überträger von Viren wurde, griff man auf elektronische und möglichst kontaktlose Zahlungsmethoden zurück. Als die Pandemie auch die öffentliche Verwaltung lahmlegte, griff man vermehrt auf Online-Dienste der Behörden zurück. Die Pandemie wirkte in vielen Bereichen wie ein drängender Treiber einer sonst ins Stocken geratenen Digitalisierung.

In Vietnam stieg laut einem Bericht der Weltbank die Nutzung digitaler Plattformen im Online-Handel, Social Media und spezieller Apps durch private Firmen von 48 Prozent im Juni 2020 auf 73 Prozent im Januar 2021. Die Nutzung digitaler Services vietnamesischer Behörden erfuhr ebenfalls einen starken Schub. Die angebotenen Services stiegen von 169 im März 2020 auf über 1.900 im Oktober 2020. Die Weltbank berichtet weiter: „Seit Februar 2021 wurden über 2.000 Services, von Führerscheinen bis zu Steuern und Unternehmensvorschriften (enterprise regulations), standardisiert und in das National Public Portal integriert, was zu einer Verzehnfachung an Besucher*innen und Transaktionen im Zeitraum von Januar 2020 bis Februar 2021 geführt hat.“

Während Amazon in Nordamerika und Europa zur Zeit der Pandemie unvorstellbare Gewinne einfuhr, wirkten sich die besonderen Umstände auch auf das Kaufverhalten vietnamesischer Konsument*innen aus. Online-Shopping-Plattformen wie Shopee, Lazada (beide aus Singapur) sowie die vietnamesischen Plattformen Tiki und Sendo verzeichneten einen Zuwachs sowohl an Verkäufer*innen als auch aktiven Käufer*innen auf ihren Plattformen. Im Zeitraum von Ende 2020 bis Mitte 2021 stieg die Zahl der Verkäufer*innen aus weniger urbanen Regionen beim E-Commerce-Giganten Shopee um 70 Prozent, während die Zahl der Konsument*innen dieser Regionen auf Shopee um 40 Prozent stieg. Ein Sprecher von Shopee sagte gegenüber ZingNews: „Unter sechs Bestellung ist eine Bestellung eines neuen Konsumenten. Covid-19 hat die alltäglichen Einkaufgewohnheiten allmählich von offline zu online verändert.“

E-Wallets und Online-Banking auf dem Vormarsch

Ebenso haben sich seit Beginn der Pandemie digitale und elektronische Zahlungsmethoden durchgesetzt und enorm an Popularität gewinnen können. Ein E-Wallet ist eine mit dem Bankkonto verbundene, multifunktionale App, mit der allerlei alltägliche Ausgaben und Transaktionen in einer App versammelt werden: im Supermarkt per QR-Code bezahlen, Handyguthaben kaufen, Geld abheben, Banküberweisungen tätigen, Wasser-, Strom-, TV- sowie Handyrechnungen, Versicherungen und vieles mehr bezahlen. Die Zahl an Funktionen, die heutzutage in einem E-Wallet vereint sind, wächst stetig.

Unter den zahlreichen Anbietern von E-Wallet-Apps sind Moca, AirPay, ZaloPay und ViettelPay bereits bekannte Namen, während neue Anbieter wie VNPay versuchen, einen Anteil vom Markt neu zu erobern. Am beeindruckendsten ist jedoch der Erfolg der E-Wallet-App MoMo („Mobile Money“) des gleichnamigen vietnamesischen IT-Unternehmens. Nachdem MoMo 2015 früh auf das Smartphone setzte, erreichte die App im Jahr 2019 bereits die Marke von 10 Millionen Downloads. Mit dem Beginn der Pandemie erfuhr die Nutzung von E-Wallet-Apps allgemein einen weiteren starken Zuwachsschub. Ein Jahr später, im September 2020, erreichte die App MoMo den neuen Rekord von 20 Millionen Downloads.

Mit der Verbreitung von Smartphones auch in ländlichen Bereichen, in Verbindung mit einerseits günstigem und andererseits schnellem mobilem Internet sowie der Verfügbarkeit von mehr und mehr Online-Banking-Apps, ist Vietnam eigentlich an einem guten Ausgangspunkt, um auch das alltägliche Banking der Bürger*innen zu digitalisieren, zu vereinfachen und für mehr Menschen zugänglich zu machen. Eine Hürde für diese Entwicklung war bisher die niedrige Zahl an regulären Bankkonten vietnamesischer Bürger*innen. Waren es im bargeldaffinen Vietnam laut Weltbank im Jahr 2019 noch ca. 41 Prozent der Bürger*innen, die über ein Bankkonto verfügten, so stieg diese Zahl bis heute auf ca. 68 Prozent. Somit besitzen heute laut der Vietnamesischen Staatsbank zwei Drittel der Bevölkerung ein Bankkonto. Im Zuge der Digitalisierung des Bankensystems in Vietnam werden heutzutage auch 90 Prozent der Transaktionen online ausgeführt, davon wiederum 90 Prozent über mobile Online-Banking-Apps.

Herausforderungen und Schwächen

Der Weltbankbericht zur Einschätzung der digitalen Transformation in Vietnam sieht das Land in einigen Bereichen auf einem guten Weg, jedoch mit Einschränkungen: „Vietnam ist in einer relativ guten Position, um seine digitalen Ambitionen zu erreichen, muss jedoch seine Stärken nutzen und die Lücken der eigenen Schwächen schließen, um seine Wirtschaft zu digitalisieren.“

Eine Schwäche ist die Qualität der Ausbildung von IT-Fachkräften für die digitale Wirtschaft Vietnams. In ihrem jetzigen Stand ist die Bildung nicht umfassend genug und den Fachkräften mangelt es an wichtigen, teilweise grundlegenden Kenntnissen. Gezieltere Investitionen zur Verbesserung der Bildung sowie Förderungsprogramme können diese Lücke schließen. Als weiteres Problem besteht jedoch die dauerhafte Einbindung von IT-Fachkräften in die vietnamesische Wirtschaft. Denn: die internationale Konkurrenz ist besser aufgestellt und kann Fachkräften oftmals bessere Bedingungen bieten. Es besteht das Problem des Braindrains, also der Abwanderung von Fachkräften. Laut Weltbank werden Vietnam im Jahr 2023 im IT-Bereich bis zu 1 Million Fachkräfte fehlen.

Ebenfalls drängend ist der Mangel an Schutz von Daten, Privatsphäre und die allgemeine Informationssicherheit (Cyber Security) im vietnamesischen Internet. In Sachen Schutz von Internetusern, Schutz vor Diebstahl und Missbrauch persönlicher Daten von sowohl einzelnen Usern, aber auch von Firmen sowie Schutz vor Industriespionage und Hackerangriffen, ist für eine freie und konkurrierende Wirtschaft unerlässlich und muss weiter ausgebaut werden. Eine umfassende und effektive Gesetzgebung zum Schutz digitaler sowie persönlicher Daten muss erarbeitet werden, damit die Digitalisierung auch im Gesetz ankommt und ihren Platz findet.

Text: Julian Huesmann