Sollte es nicht gelingen, lokale Ausbrüche erfolgreich zu unterdrücken, kommt es zu einer zweiten Welle. Welche Folgen hätte das für uns?
Im schlimmsten Fall müssen wir mit mehreren 100.000 Toten rechnen. Wenn wir eine zweite Welle verhindern können oder die zweite Welle mit Frühwarnsystemen schnell wieder in den Griff bekommen, gibt es mit großer Wahrscheinlichkeit weniger als 12.000 Tote. Mit unserem Verhalten entscheiden wir, wie die Epidemie weiter verläuft.
In Serbien, Kroatien, Spanien, Luxemburg, Frankreich und vielen anderen Staaten in Europa gibt es bereits eine zweite Welle oder sie steht vor der Tür. Gibt es Strategien gegen Corona? Was können wir von anderen Ländern lernen?
Von anderen Ländern können wir lernen, ausreichend zu testen, Infektionsketten nachzuverfolgen und zu unterbrechen, ältere Menschen besonders zu schützen, und sicherzustellen, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Es ist wichtig, schnell zu handeln und mit Einreisebeschränkungen, Quarantäne und abgestimmten Maßnahmen die Gesundheit der Bürger zu schützen, ohne die Wirtschaft stark zu schädigen. Reichen die Maßnahmen nicht aus, müssen sie lokal verschärft werden, aber nur so stark, wie es unbedingt nötig ist.
Prof. Becker, Sie haben einen Gastbeitrag im Buch geschrieben. Meine Frage an Sie: Welche wirtschaftlichen Auswirkungen hätte eine zweite Welle in Deutschland?
Die Mehrheit der Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland hat die erste Welle der Corona-Pandemie bisher überstanden. Allerdings sind die finanziellen Reserven dieser Unternehmen weitestgehend aufgebraucht. Einen zweiten, flächendeckenden Lock-Down der deutschen Wirtschaft gilt es zu vermeiden, denn die Mehrheit der Unternehmen würde diesen nicht überstehen.
Prof. Reintjes, wie schätzen Sie als Epidemiologe die Corona-Lage in Deutschland ein?
Stand heute, im September 2020, haben wir hier in Deutschland im internationalen Vergleich zur richtigen Zeit vieles richtig gemacht und gleichzeitig auch Glück gehabt. In großen Teilen des Sommers hatten wir mit überschaubaren gemeldeten Neuinfektionszahlen zu tun. Es ist verständlich, dass Menschen wieder Großveranstaltungen in Sport und Kultur genießen wollen, Urlaub machen wollen und dass vor allem Kinder wieder in den Schulunterricht und in Betreuungseinrichtungen sollten. Wenn wir aber alles wieder aufmachen, dann werden die Zahlen so stark steigen, dass wir sie nur noch schwer kontrollieren können. Deshalb sollten wir jetzt viel vorsichtiger sein und Prioritäten setzen. Ein Ende der Covid-19-Pandemie ist noch nicht absehbar. Wir alle werden Geduld und Disziplin benötigen, um das Erreichte nicht aufs Spiel zu setzen. Nur gemeinsam können wir einer möglichen zweiten Welle, bei der die Infektionsketten womöglich schwer bis gar nicht nachvollziehbar sein werden, verhindern. Jeder spielt eine wichtige Rolle, damit wir die Ketten der Übertragungen frühzeitig unterbrechen können.
Prof. Möller, kommen wir nochmal auf das von Ihnen und Herrn Drewes entwickelte Modell zurück. Mit seiner Hilfe können wir besser verstehen, wie Corona-Wellen entstehen und sich ausbreiten. Was haben Sie herausgefunden und was haben sie für die Zukunft geplant?
Je besser man die die Entstehung und Ausbreitung einer Welle versteht, desto effektiver kann man auch gegen sie vorgehen. Zunächst haben wir die R-Wert-Berechnung verbessert. Der sensitive Wert nach der RKI-Methode löst häufig Fehlalarme aus. Er ist nur bedingt geeignet, das Infektionsgeschehen zu beschreiben. Der geglättete Wert vom RKI sollte unserer Einschätzung nach verbessert werden, damit er auch ein sich schnell änderndes Infektionsgeschehen realistisch beschreiben kann. Dies wäre wichtig, um lokale Ausbrüche besser zu verstehen und die Pandemie zu bekämpfen. Im Buch machen wir konkrete Vorschläge für die Verbesserung der R-Wert-Berechnung. In Zusammenarbeit mit Dr. G. Fläschner von der ETH Zürich sind weitere Untersuchungen geplant.