| Forschung
Interview mit Prof. Ernst Ulrich von Weizsäcker

"Diejenigen werden die Gewinner sein, die auf echte Nachhaltigkeit setzen"

Der englische Titel des Buches „Wir sind dran“ aus dem Jahr 2018 heißt „Come on!“ und spricht uns direkt an. Er sagt, dass wir gemeint sind, wenn es um einen Switch in eine nachhaltige Zukunft gehen soll. Wir haben mit Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ernst Ulrich von Weizsäcker, dem Vorsitzenden des Club of Rome und Herausgeber des Buches „Wir sind dran“ über eine neue Aufklärungstheorie für unsere Zeit der „vollen Welt“ gesprochen.

Ernst Ulrich von Weizsaecker

Symposium zum 80.Geburtstag von Ernst Ulrich von Weizsaecker. Veranstaltet von der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler VDW in Zusammenarbeit mit dem Club of Rome und dem Wuppertal Institut.

Die HAW Hamburg veranstaltet am 2. Juni einen Aktionstag zu einer neuen Aufklärung mit einer Keynote von Prof. Ulrich von Weizsäcker. Mit dem digitalen Aktionstag will die HAW Hamburg einen Beitrag leisten, Hochschulen als Räume des Zukunftsdenkens zu gestalten. Studierende, Expert*innen und die interessierte Öffentlichkeit diskutieren im Rahmen des Aktionstags das Thema Nachhaltigkeit gemeinsam und fachübergreifend aus unterschiedlichen Perspektiven und Disziplinen.

Herr Professor von Weizsäcker, können Sie einem Nicht-Philosophen den Begriff der Aufklärung in einfachen Worten erklären? Warum ist dieses Denken der Vernunft so ungeheuer erfolgreich?
Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker: Wir müssen mit den Begriffen einer leeren und einer vollen Welt anfangen. Herman Daly, Chefökonom der Weltbank, hat diese Begriffe geprägt und er hat natürlich einen ökonomischen Gesichtspunkt. Er beschreibt damit, dass sich das Wachstum von Wohlstand in Europa seit dem 17. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts fortwährend ausgedehnt und gesteigert hat. Mit dieser Ausdehnung ist auch Eroberung gemeint, zum Beispiel von Nord- und Südamerika und Afrika.

Diese Ausdehnung ist bis heute durchweg positiv besetzt und ermöglichte den Übergang von der leeren zur vollen Welt. Wir feiern die großen Entdecker und Eroberer immer noch als Helden. Ebenso sind die großen Denker der Aufklärung wie René Descartes, Immanuel Kant immer noch sehr beliebt und durchgängig positiv konnotiert. Dabei folgt unsere Fortschrittstrategie diesem Denken der Vernunft und ist kritisch zu hinterfragen, da egoistisch und europazentrisch.

Wenn Sie einen Afrikaner fragen, wie er das findet, ernten Sie oft eine zornige Reaktion. Aufklärung wird dort mit Eroberung gleichgesetzt. Die Wahrnehmung der Sieger unterscheidet sich eben von der der Besiegten. Die Aufklärung wirkte dort wie eine Waffe, dabei war sie für uns Europäer die große Befreiung von Kirche und Feudalsystem.

Der Begriff der Aufklärung wie er hier eingesetzt wird, verknüpft das aufgeklärte Denken der Moderne unmittelbar mit einem bestimmten Wirtschaftstypus und Finanzsystem, das die 1. Industriellen Revolution hervorgebracht hat. Wie hängt das zusammen?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Schauen Sie sich dazu das Pro-Kopf-Einkommen an. Dieses ging ab dem 18. Jahrhundert rasant nach oben. Der Nobelpreisträger Paul Crutzen definierte das Jahr 1950 als Zäsur, wo das Holozän in das Anthropozän wechselte. Bis dahin machten die Menschen 200 Jahre eine Entwicklung durch von immer mehr überlebenden Menschen durch Medizin und Wohlstand. Diese Zeit, so Crutzen, war die glücklichste Phase der Menschheit in der gesamten Erdgeschichte. Wir hatten eine leere, große und ausgeglichene Welt im Einklang mit der Natur.

Sie zeigen in Ihrem Buch „Wir sind dran“ an vielen markanten Beispielen, dass unsere Nachhaltigkeitsstrategien der gleichen Logik des aufgeklärten Denkens der leeren Welt folgen. Sie behaupten, dass diese Denkweise kein „ernstgemeintes Nachhaltigkeitsdenken“ hervorbringen kann. Können Sie uns das erklären?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Ohne Frage ist die Nachhaltigkeits-Agenda 2030 ein großer Fortschritt, aber zu schwach. Die ersten 11 „Sustainable Development Goals“, kurz SDGs genannt, folgen ausschließlich der Logik des Wachstums und damit einem radikalen Wachstumsziel. Das ist für Schwellen- und Entwicklungsländer absolut nachvollziehbar, nur in Bezug auf die Natur ist es das nicht.

So fordert das Ziel zwei, den Hunger zu beenden. Das würde bedeuten, die landwirtschaftlichen Flächen zu verdoppeln. Konkret gesprochen, müsste man die Hälfte des Serengeti-Nationalparks opfern. Erst in den SDGs 13, 14 und 15 geht es um Klima, Meere und Biodiversität. Das kommt mir wie fromme Sprüche zur Gewissensberuhigung vor. Diese wichtigen Fragen sind auf der Agenda zu weit nach hinten gerückt. Dem Megatrend zum rein ökonomischen Wachstum wird dort ungebrochen gefolgt. Und dazu kommt das SDG 17, das sich auf Entwicklungshilfe bezieht. Das Bruttoinlandprodukt soll durch Zuschüsse aus dem Norden in den südlichen Ländern gesteigert werden, nur um die Natur noch schneller kaputt zu machen. Aus diesem Grund halte ich die Agenda 2030 für sachlich falsch und für einen unrichtigen Weg.

In meinem Vortrag am 2. Juni an der HAW Hamburg zeige ich einen Cartoon von einem Kino. Es werden zwei Filme gezeigt, den von Al Gore „Eine unbequeme Wahrheit“ (An Inconvenient Truth) und den des britischen Komikers Ricky Gervais „Lügen macht erfinderisch“ (The Invention of Lying). Leider bleibt der Kinosaal zu Gores Dokumentarfilm leer, alle gehen in die Komödie. Die Menschen wollen sich belügen, sie mögen keine unbequemen Wahrheiten und gehen lieber in gute Unterhaltungsfilme. So aber kommen wir aus dem Schlamassel nicht heraus.

Wie aber ändert man das Paradigma des eigenen Denkens? Wie kommen wir hinter die Vernunft zurück? Und wie erreichen wir eine „ernsthafte Transformationsagenda, die sich wirklich an Nachhaltigkeit orientiert?
Ernst Ulrich von Weizsäcker:
Papst Franziskus nennt das Problem beim Namen. Seine Aussagen zur Klimakrise in der Enzyklika „Laudato si'“ kann ich nur bestätigen. Dabei hat er sich von namhaften Klimaforschern beraten lassen, was für einen Mann der Kirche schon sehr besonders ist. Franziskus betont das Ehrlichkeitsbewusstsein, das ständige In-sich-hinein-Lügen ist von Gott nicht gewollt. Und auch andere monotheistische Religionen, das zeigen wir in unserem Buch, haben wesentliche Aussagen zur Rettung der Natur gemacht. Der Papst ist aber der prominenteste Vertreter.

Die Menschen wollen sich belügen, sie mögen keine unbequemen Wahrheiten ... So aber kommen wir aus dem Schlamassel nicht heraus.

Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Schirmherr der Veranstaltungsreihe Aktionstage zur Aufklärung 2.0

Wer heute in der akademischen Welt Erfolg haben will, muss in den einschlägigen Peer-Review-Journalen erscheinen. Die dargestellte wissenschaftliche These oder Studie folgt dabei rein reduktionistischen Kriterien und damit dem von uns in Frage gestellten Begriff der Aufklärung. Man kann in der akademischen Welt nur etwas werden, wenn man sich an diesen mechanistischen Ansatz der eingeführten wissenschaftlichen Erkenntnis hält. Wir aber kritisieren diesen Ansatz zutiefst. In unserem Buch zeigen wir eine tote Ratte, die seziert wird. Was aber lernt man von einer ermordeten Ratte über ein lebendiges System wie es die Natur oder eben die Ratte ist? Null!

Was für einen Wissenschaftsbegriff haben Sie im Sinn? Und wie lassen sich Philosophie, Ethik, Naturwissenschaft und Spiritualität miteinander versöhnen?
Ernst Ulrich von Weizsäcker:
Man muss Systemtheorie betreiben, um zukunftsorientiert zu denken und voranzugehen, Fakten gehören der Vergangenheit an. Ein Studierender der Biologie muss sich heute ebenso mit der Ökologie und dem Lebensumfeld eines Lebewesens auseinandersetzen. Erst so wird er oder sie das Tier oder die Pflanze besser verstehen. Nehmen wir die Obstbäume. Ihr Erfolgsrezept ist die breitmöglichste, unspezifische Verteilung ihrer Pollen in der Gegend durch Bestäuber. Der von Charles Darwin meist zitierte Satz ist der vom „Kampf ums Dasein“. Das aber meint bei ihm Kooperation und nicht Auslöschung des anderen. Wenn ein angehender Ingenieur*in heute eine Maschine wie beispielsweise eine Windkraftanlage baut, muss er oder sie sich mit Biologen und Verhaltensforschern von Fledermäusen oder Greifen unterhalten. Diese Kooperation und Interdisziplinarität von Expert*innen macht die WKA erst erfolgreich, ansonsten ist sie ein Armutszeugnis.

Hochschulen sind Orte für dieses neue „Denken 2.0“. Was müssen wir tun, wie können Hochschulen, besonders Hochschulen für angewandte Wissenschaften, die Idee einer neuen Aufklärung verfolgen und im Bildungssystem verankern?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Unser Buch „Wir sind dran“ ist in erster Linie eine Empfehlung an die Politik. Unsere Empfehlung an die akademischen Ausbildungsstätten wie Hochschulen es sind, ist die Curricula zu öffnen und interdisziplinär zu gestalten. Ein Studierender der Elektrotechnik sollte im Nebenfach Afrikanistik oder Chemie studieren dürfen, ein Maschinenbau-Studierender im Nebenfach Verhaltensforschung. Klar steht das Hauptfach im Mittelpunkt, aber diese Nebenfächer sind wichtige Abzweige des Wissens.

Einer der großen Physiker unserer Zeitgeschichte, Hermann von Helmholtz, war gleichzeitig Arzt, er formulierte die Hauptsätze der Wärmelehre. Daher müssen jedem und jeder Studierenden ein breites Angebot an Wahlfächer neben Pflichtfächern zur Verfügung stehen. Bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse sowie Erfindungen sind häufig aus diesen Seitenwegen entsprungen. Daher ist jede Engführung im Curriculum falsch. Häufig arbeiten junge Menschen später in Berufen, die sie gar nicht studiert haben. Das zeigt, dass sie anpassungsfähiger sind, wenn sie sich breiter aufstellen. Als Präsident der Universität Kassel führte ich in den 80er Jahren das Studienfach Ökolandwirtschaft ein. Heute ein Mekka für junge Menschen, die ökologische Landwirtschaft studieren wollen, damals ein zentraler Angriff auf die konventionellen Agrarwissenschaften.

Man muss Systemtheorie betreiben, um zukunftsorientiert zu denken und voranzugehen, Fakten gehören der Vergangenheit an.

Prof. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Naturwissenschaflter und Biologe

Lassen Sie uns am Schluss noch einen Blick in die Zukunft werfen. Wie sieht das Narrativ von Lebenszufriedenheit und Glück in der Zukunft aus? Wir sprechen hier ja auch über Verzicht und Abkehr von immer-mehr-Wohlstand?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Leider habe ich für die nächsten 20 Jahre eine eher pessimistische Prognose. Wir werden unsere profitorientiere, naturzerstörende Ausdehnungsstrategie – die Definition von Anthropozän – noch eine Weile ungebremst verfolgen. Wenn Firmen dann nicht mehr in Europa Geschäfte machen können, werden sie eben nach Afrika gehen. Langfristig aber, und das zeigen wir ja mit den vielen positiven Beispielen in Teil Vier von „Wir sind dran“, werden diejenigen die Gewinner sein, die auf echte Nachhaltigkeit setzen und ihre Produktion darauf umgestellt haben.

Ein Beispiel hier ist die Digitalisierung. Hier kritisieren wir ja nicht die Künstliche Intelligenz an sich als mentale Errungenschaft der Menschheit. Wir kritisieren die Umsetzung einer KI-Strategie durch eine kleine US-amerikanische Elite, sich die Welt digital unterzuordnen. Man kann KI aber auch anders einsetzen, zum Beispiel um Windkraftanlagen intelligent machen und so Vögel wirksam vor ihnen zu schützen. Nur Firmen, die sich der Nachhaltigkeit im Wesen verschrieben haben, haben in der Zukunft eine reale Überlebenschance.

Sieger werden diejenigen sein, die sich um eine ökologische Perspektive bemühen, da sie auch die soziale Zustimmung erhalten. Wir sprechen hier von Naturkapitalismus und Biomimikry, an denen sich Unternehmen zukünftig orientieren müssen. Auch wenn in der Politik schon einiges passiert ist, ist hier noch sehr viel Luft nach oben. Und leider muss dieses auch auf weltpolitischer Ebene passieren. Wir benötigen eine ökologische Weltkultur mit einem globalen Rechtsrahmen, sonst wird das nichts.

Lieber Herr Professor von Weizsäcker, wir danken Ihnen für das Gespräch!

(Interview: Dr. phil. Katharina Jeorgakopulos)
 

WEITERE INFORMATIONEN UND ANMELDUNG ZUM AKTIONSTAG AUFKLÄRUNG 2.0 AN DER HAW HAMBURG:

Website
Livestream

Pressemitteilung vom 19. Mai 2021

Hier geht es zur englischen Version des Interviews

Zum Buch „WIR SIND DRAN: Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen“ (2018) herausgegeben von Ernst Ulrich von Weizsäcker und Anders Wijkman zum 50. Bestehen des Club of Rome bietet einen breiten Überblick über laufende Vorhaben, Projekte und globale Diskurse auf allen Ebenen zur Nachhaltigkeit. Obwohl es sich das Buch flüssig und stellenweise fast wie Science-Fiction liest, kann man durch die zahlreichen Verweise jederzeit tiefergehend und wissenschaftlich in das Thema einsteigen. Ist der philosophische Begriff der Aufklärung für die Grundlage der hier durchgeführten Argumentation in Teil 1 und 2 klar umrissen, ist der Teil 3 und 4 hingegen eher ein Suchen und Finden, ein Konglomerat oder Narrativ einer Begriffsfindung des neuen Denkens einer neuen Balance von Mensch und Natur.

(Katharina Jeorgakopulos)

Kontakt

HAW Hamburg
Hannah Birr
Referentin für Veranstaltungen
T +49 40 428 75-9255
wir-sind-dran (@) haw-hamburg.de

x