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Interview

Digitales Training kann Menschen retten

Übungen wie „ModTTX“ (Modules Table Top Excercises) dienen dem grenzübergreifenden Training für Katastrophenfälle. Durch die coronabedingten Kontaktbeschränkungen drohte in diesem Jahr das Aus für die Übung. Bis in der HAW Hamburg eine digitale Lösung gefunden wurde. 

Katastrophenschutzeinsatz im Libanon

Katastrophenschutzeinsatz im Libanon

Die Zahl der Katastrophen hat sich laut einem UN-Bericht seit dem Jahr 2000 weltweit fast verdoppelt. Medienberichte über das Erdbeben in der Ägäis Ende Oktober oder die Explosion im Hafen von Beirut im August bringen die Dramatik solcher Ereignisse ins heimische Wohnzimmer und zeigen: Gut ausgebildete Retter entscheiden oft buchstäblich über Leben und Tod. In Übungen wie „ModTTX“ (Modules Table Top Excercises) wird der Ernstfall grenzübergreifend trainiert.

In Coronazeiten fand eine solche Übung erstmals digital statt. Die zugrunde liegende Plattform wurde von Studierenden der Studiengänge Rettungsingenieurwesen und Gefahrenabwehr der HAW Hamburg entwickelt. 

Professor Boris Tolg von der Fakultät Life Sciences und Jonas Jost vom Auslandsreferat des Technischen Hilfswerks (THW) berichten von ihren Erfahrungen mit Simulationen – digital oder real – und den Erfahrungen am Einsatzort selbst.

Professor Tolg, seit wann wird der Umgang mit Katastrophen an der HAW Hamburg trainiert? 
Professor Boris Tolg: Wir führen seit 2015 alle zwei Jahre Großübungen mit bis zu 400 Teilnehmern durch. Das ist ein immenser zeitlicher und finanzieller Aufwand, aber er lohnt sich. Denn in der Realität trifft eine oft große Zahl an Retterinnen und Rettern auf eine unübersichtliche Lage. Je besser sie darauf vorbereitet sind, desto erfolgreicher sind sie. Die Übungen findet auf dem Gelände der HAW Hamburg statt, aber natürlich ist auch die Umgebung betroffen.

Wir müssen also auf die Toleranz der Nachbarschaft bauen. Trotzdem limitiert die Logistik die Größe der Übung. In einer digitalen Simulation hingegen können wir eine Stadt komplett ins Chaos stürzen und Stabsrahmenübungen aller Art durchführen. Bis hin zur Triage und der Entscheidung über Leben und Tod – mit die schwerste Entscheidung überhaupt. Doch auch hierbei hilft Training.  

Was spielt überhaupt alles in den Bereich Katastrophenschutz hinein? 
Jonas Jost: Es gibt einen Katastrophenschutz-Zyklus: Da ist zunächst die Vermeidung und Vorsorge mit Maßnahmen, die einerseits Organisationsprozesse betreffen oder die sichere Lagerung von Gefahrengütern, aber auch Personalschulungen oder eine effektivere Warnung der Bevölkerung im Krisenfall. Und dann natürlich die Katastrophenbewältigung selbst bis hin zur Wiederherstellung eines möglichst resilienteren Zustandes. Bei diesem Kreislauf arbeitet das THW an der Schnittstelle zwischen Vermeidung und dem Ereignis selbst, in der Hochschule liegt der Fokus vor allem auf Vermeidung und Vorsorge.  

Professor Boris Tolg: Dazu gibt es Übungen auf verschiedenen Ebenen: Von der Mikro- bis zur Makroebene. Die Mikroebene umfasst eher handwerkliche Übungen, wie das Vernähen offener Wunden. Auf der Makroebene geht es eher um Koordination. Bei Katastrophen wird üblicherweise ein Stabsraum eingerichtet, für den Blick auf das Große und Ganze und zum Zusammenführen aller Informationen. Es ist ein wenig wie die Totale im Film. 

Und um diese „Totale“ ging es auch im Projekt „ModTTX“?
Jonas Jost: Genau. ModTTX ist ein EU-finanziertes Projekt, das Stabsrahmenübungen auf europäischer Ebene unter der Leitung des THW durchführt. Das aktuelle Projekt ist auf zwei Jahre ausgerichtet und die Partner kommen aus Deutschland, Belgien, Dänemark, Slowenien und Kroatien.

Als klar wurde, dass wir vor dem Hintergrund der Pandemie im Oktober nicht in einem Partnerland vor Ort würden trainieren können, brauchten wir sehr schnell eine digitale Lösung. Und die hat die HAW Hamburg geliefert. In nur einem Monat! Damit sind wir die ersten gewesen, die das Projekt in dieser Form europaweit durchführen konnten. 

Professor Boris Tolg: In dieser kurzen Zeit konnten unsere Studierenden, unterstützt von Karsten Loer, Professor für Technik der Gefahrenabwehr im Bevölkerungsschutz, Markus Wiedemann, Experte für sogenannte Massenanfälle von Verletzten (MANV) und mir, natürlich keine neue Softwarelösung entwickeln.

Also haben wir Open Source-Lösungen zu einem Gesamtsystem zusammengebaut, das die Kommunikation mittels Videokonferenzen oder kostenloser Telefonie ermöglicht und mittels eines Green Screen konnten wir die Teilnehmer in unterschiedliche Umgebungen versetzen. Etwa einen Flughafen, um die reibungslose Einreise von Mensch und Material zu simulieren. 

War die digitale Übung ein Erfolg?
Jonas Jost:
Absolut und das nicht nur in Bezug auf die Inhalte der Übung selbst, also Kommunikation, Koordination oder Organisation. Wir leben in einer immer digitalisierteren Welt und haben das bisher zu sehr vernachlässigt. Die Erfahrungen mit dem digitalen ModTTX bringen uns weiter in der Anwendung digitaler Produkte. Und das ist hilfreich auch über die Pandemie hinaus.

Denn es gibt und gab immer wieder Situationen, in denen wir z.B. nicht zum Übungsort fliegen konnten. Etwa wegen extremer Wetterbedingungen oder als durch den Vulkanausbruch auf Island der Flugverkehr zum Erliegen kam. Digitale Anwendungen ersetzen die praktischen Übungen nicht, aber am Ende helfen sie uns leistungsfähig zu bleiben.

Professor Boris Tolg: Es ist schon richtig, nicht alles lässt sich digital erarbeiten. Einen Zugang zu legen, lässt sich nicht digital lernen. Aber Prozess- und Handlungsabläufe sowie Kommunikation lassen sich digital gut trainieren. Das hat ModTTX bewiesen.  

Die Übungen sollen die Retter auf den Ernstfall vorbereiten. Sie Herr Jost, waren nach der Explosion im Hafen von Beirut für das THW vor Ort. Nicht Ihr erster Einsatz…

Jonas Jost: Aber ein Ad-hoc-Ereignis, das wir in dieser Form noch nicht kannten. Wir haben vor allem Erfahrung mit Naturkatastrophen, wie Wirbelstürmen, Überschwemmungen oder Erdbeben. Eine Explosion ist tatsächlich etwas anderes. 
Nachdem die libanesische Regierung internationale Hilfe angefordert hatte, wurden wir zusätzlich vom Auswärtigen Amt gebeten, ein Botschaftsunterstützungsteam zu schicken.

Wir haben daraufhin zwei Teams zusammengestellt. Das eine bestand aus 50 Einsatzkräften des THW in Zusammenarbeit mit ISAR Germany und vier Hunden mit dem Ziel ´Suche und Rettung`. Leider konnten sie angesichts der Schwere der Explosion keine Überlebenden mehr finden. Parallel dazu gab es ein vierköpfiges Team, drei Einsatzkräfte des THW und eine Einsatzkraft der Analytischen Task Force Deutschland, das die Botschaft im Krisenmanagement unterstützt hat, also eher auf der besagten Makroebene gearbeitet hat. Wir haben Informationen zusammengetragen: Was ist überhaupt passiert? Wer ist betroffen? Wie ist der Zustand der Gebäude? Welche internationalen Kräfte sind vor Ort und werden weitere benötigt? Und schließlich: Was bedeutet die Katastrophe für uns in Deutschland. Tatsächlich war unter den Opfern leider auch eine Mitarbeiterin der deutschen Botschaft.

Interview: Yvonne Scheller

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