Prof. Stöcker, dass Online- und Social Media-Plattformen sowie auch Printmedien im Besitz von einem oder wenigen Haupt-Eigentümern sind und damit auch eine bestimmte politische und gesellschaftliche Perspektive vertreten, ist nichts Neues. Warum ist die Übernahme von Twitter durch Elon Musk gerade so in der Diskussion?
Prof. Dr. Christian Stöcker: Musk hat sich sowohl im Vorfeld der Übernahme als auch unmittelbar danach auf Twitter selbst mehrfach sehr explizit politisch geäußert. Zum Beispiel hat er im Vorfeld der Kongresswahlen in den USA im November eine konkrete Wahlempfehlung zugunsten der Republikaner abgegeben. Das haben andere Gründer von Social-Media-Plattformen oder Suchmaschinen in dieser Form bislang nie getan. Dazu kommt, dass Twitter nun ein Privatunternehmen ist, also auch nicht den üblichen Aufsichtsgremien unterstellt ist, die es zum Beispiel bei börsennotierten Unternehmen gibt.
Seine eigenen politischen Vorstellungen hat Musk auch in der Vergangenheit dort teilweise in, sagen wir mal: drastischer Weise dargestellt, zum Beispiel, als er Kanadas Premierminister Justin Trudeau mit einem Hitler-Meme, also einem witzig gemeinten Bild von Hitler mit Text, kritisierte. Dazu kommt, dass, zumindest in funktionierenden Medienunternehmen, eigentlich eine Unabhängigkeit der Redaktion vom Eigentümer und den Geschäften des Verlags bestehen sollte. Die „Washington Post“ ist auch nach der Übernahme durch Jeff Bezos nicht zu einem Werbeblatt für Amazon geworden, sondern ist weiterhin eine unabhängig agierende Publikation. Bei Musk besteht der durchaus begründete Verdacht, dass er unter dem Deckmantel dessen, was er für Meinungsfreiheit hält, extreme politische Haltungen bei Twitter wieder salonfähig machen könnte, die bislang den Hausregeln zum Opfer fielen, etwa, weil es sich um Beleidigungen, um Gewaltaufrufe oder um rassistische, sexistische oder anderweitig menschenfeindliche Äußerungen handelt.
Sie selbst sind Nutzer von Twitter und haben tausende Follower. Wie denken Sie wird es weitergehen mit dem bekannten Onlinedienst? Sehen Sie das Vorgehen von Musk eher als Zerstörung oder als notwendige Veränderung?
Christian Stöcker: Ich wage im Moment keine Vorhersage, aber bislang hat Elon Musk in jedem Fall mehr kaputt gemacht als verbessert. Er hat Tausende von Mitarbeitenden entlassen und musste anschließend einige wieder ins Büro zurückbitten, weil sie für den Betrieb der Plattform offenbar essenziell sind. Dem Vernehmen nach wurden auch viele Tausend freiberuflich für das Unternehmen arbeitende Menschen von einem Tag auf den anderen ohne Begründung oder Ankündigung freigestellt, von denen viele für die Moderation der Inhalte zuständig gewesen sein sollen. Viele Werbetreibende, darunter sehr große, internationale Unternehmen, haben sich von Twitter abgewandt. Diverse Mitarbeitende in Führungspositionen haben von sich aus gekündigt, weil sie mit der chaotisch wirkenden Unternehmensführung nicht einverstanden sind.
Unmittelbar nach der Übernahme durch Musk gab es einen messbaren Anstieg von Hassrede und beleidigenden, etwa rassistischen Begriffen in Tweets. Das Hin- und Her im Bezug auf mit einem blauen Häkchen als verifiziert markierte Accounts ist in der Geschichte der sozialen Medien beispiellos. Mehrmals hintereinander wurden Veränderungen zuerst eingeführt und kurz darauf wieder zurückgenommen. Mitte November brachen die Börsenkurse von mindestens zwei US-Unternehmen ein, nachdem mit einem blauen, gegen eine Gebühr statt gegen einen Identitätsnachweis verliehenen Verifikationshaken ausgestattete, in Wahrheit aber gefälschte Accounts in ihrem Namen börsenrelevante Desinformation verbreiteten. Dabei ging es um Milliardensummen. Im Moment beobachten viele langjährige Twitter-Nutzerinnen und -Nutzer die Vorgänge mit wachsender Fassungslosigkeit und Sorge. Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, dass Musk das Unternehmen in die Zahlungsunfähigkeit treibt, wenn es so weitergeht. Strategisch oder durchdacht wirkt sein Vorgehen nicht.
Die allgemeine Verunsicherung bei den Nutzern hat die Diskussion um die Twitter-Alternative Mastodon aufkommen lassen. Ist dieses Tool eine ernsthafte und datenschutzkonforme Alternative zu Twitter?
Christian Stöcker: Mastodon hat die meisten Funktionen von Twitter zu bieten, basiert aber auf einer dezentralen Infrastruktur, das heißt, jeder kann einen eigenen Mastodon-Server auf Basis des quelloffenen Codes betreiben. Das hat Vor- und Nachteile: Es ist sehr leicht, weitere Mastodon-Instanzen aufzusetzen und alle, die sich dort anmelden, können über alle Instanzen hinweg miteinander kommunizieren. Einige Funktionen von Twitter fehlen noch, aber das ließe sich nachbessern. Das größere Problem ist bei dem enormen Wachstum, das sich dort gerade abspielt, eher ein anderes: Eine dezentrale Infrastruktur, die aus vielen einzelnen, zum Teil nur von einer oder zwei Personen betriebenen Instanzen basiert, stößt schnell an ihre Grenzen, sowohl, was die physische Infrastruktur als auch was die Aufsicht und auch den Datenschutz angeht. Das, was Twitter derzeit vorgeworfen wird – die Abwesenheit stringenter Moderation von Inhalten – wird sich bei Mastodon fast zwangsläufig einstellen, weil die Betreiber kleinerer Instanzen mit dem Moderieren kaum nachkommen werden und es zudem natürlich auch kein einheitliches Regelwerk gibt.
Eine öffentlich, beitrags- oder spendenfinanzierte Version von Mastodon oder ein System, in dem vertrauenswürdige Einrichtungen wie Universitäten und Hochschulen eigene Instanzen betreiben und rechtskonform betreuen, könnte aber mittelfristig eine durchaus sinnvolle Lösung nicht nur für die Probleme von Twitter, sondern von kommerziellen Social-Media-Angeboten ganz generell sein. Solche Alternativmodelle zu kommerziellen Social-Media-Plattformen hat es immer wieder gegeben, sie konnten sich aber nie durchsetzen. Es wird sich zeigen, wie sich Mastodon weiterentwickelt – ich habe mir jedenfalls schon vor einiger Zeit einen Account zugelegt, und bislang ist der Diskurs dort tatsächlich noch zivilisierter als bei Twitter.
Elon Musk sagt, dass mit der offiziellen Kennzeichnung der Accounts durch den blauen Haken zukünftig Fake-Accounts vorgebeugt wird. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?
Christian Stöcker: Im Moment ist das definitiv nicht der Fall, wie spätestens die bereits aufgezählten Beispiele zeigen. Der blaue Haken, den man vorübergehend kaufen konnte, hat nichts mit Verifikation zu tun, außer der Tatsache, dass die Person, die ihn erwirbt, ein Zahlungsmittel angegeben hat. Das ist etwas völlig anderes als das 2009 eingeführte „Verified Accounts“-Programm, in dem es wirklich darum ging, die Konten von in der Öffentlichkeit stehenden Personen, von Unternehmen und anderen sowie deren Publikum vor gefälschten Accounts zu schützen.
Die Verifikation hat seitdem tatsächlich dazu beigetragen, dass Twitter zumindest in Teilen etwas verlässlicher wurde, auch wenn es weltweit weniger als 500.000 verifizierte Accounts gab, als Musk das Unternehmen übernahm. Unter falscher, aber vermeintlich verifiziert echter Flagge Desinformation zu verbreiten, wurde nach Musks Verwandlung des blauen Hakens in ein Monetarisierungsinstrument plötzlich sehr einfach. Folgerichtig wurde die Option, den Haken käuflich zu erwerben, vorübergehend wieder deaktiviert, dafür wurde vorübergehend ein grauer Haken für tatsächlich verifizierte Accounts eingeführt, aber auch der wurde wieder zurückgenommen. Es ist im Moment wirklich schwer, den Überblick zu behalten.
Was können die die EU oder Deutschland insgesamt tun, um gegen Fakenews und Verschwörung auf Twitter vorzugehen?
Christian Stöcker: Rechtlich hat insbesondere die EU mit der Datenschutzgrundverordnung und dem neuen Digital Services Act bereits diverse Werkzeuge in der Hand, um Unternehmen wie Twitter juristisch an gewisse Standards zu binden. Hochrangige EU-Vertreter haben darauf auch direkt nach der Übernahme durch Musk bereits öffentlich hingewiesen. Im Moment fließen einige Forschungsgelder in die Entwicklung von Werkzeugen zur Erkennung von koordinierten Desinformationskampagnen und auch in die Entwicklung von Unterrichts- und Fortbildungsmaterialien und -maßnahmen, die die Gesellschaft als ganzes resilienter gegen Desinformation und Verschwörungstheorien machen könnten.
Auch wir am Department Information sind in mehrere solcher Projekte involviert, mit Partner*innen aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Digital- und Medienwirtschaft. Es gibt in diesem Bereich mittlerweile eine international und insbesondere europäisch gut vernetzte Szene von Akteur*innen aus unterschiedlichen Bereichen. Das Problem ist erkannt und wird bearbeitet, aber das braucht seine Zeit. Der Königsweg wäre vermutlich tatsächlich eine öffentlich finanzierte, aber von staatlichen Eingriffen unabhängige Kommunikationsinfrastruktur, die nicht den Prinzipien kommerzieller Social-Media-Plattformen unterliegt. Denn, das wissen wir aus der Forschung mittlerweile ziemlich genau: Die Sortiermechanismen und Benutzeroberflächen dieser Plattformen, die auf die Maximierung der Zeit hin optimiert sind, die Menschen damit verbringen, sind leider ein idealer Nährboden für alles, was Menschen aufregt. Und in solchen Ökosystemen haben die Verbreiter*innen von Desinformation immer leichtes Spiel. Das ist ein eingebauter Kollateralschaden dieser Geschäftsmodelle.
Interview: Anke Blacha/Katharina Jeorgakopulos