Sie haben eine empirische Studie in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen durchgeführt. Was war der übergreifende Tenor? Was die häufigste Aussage?
Dr. Elina Marmer: In unserer Studie ging es nicht vorrangig um Diskriminierung und Rassismus. Es ging vielmehr um kulturelle Bildung und, wie der Name des Forschungsprojekts nahelegt, um „Kulturelle Identitäten und Erbe für Europas Zukunft“. Der Umgang mit Kulturverständnissen und kulturellen Identitäten von jungen Menschen, Lehrer*innen, Kulturpädagog*innen sowie Familien steht im Fokus der Untersuchung.
Umso überraschender war das Ergebnis: Der Rassismus ohne Rassen, also Kulturrassismus, dominiert die Vorstellungen von Jung und Alt. Dieser wird über Bildungspläne, Unterrichtsinhalte und kulturelle Bildungsangebote vermittelt. Wir stießen auf starre Definitionen von Kultur und kultureller Identität. Menschen werden aufgrund ihres Aussehens Identitäten zugewiesen, die sie entweder als dazugehörig, also „deutsch“, oder als nicht dazugehörig markieren. Und es werden hierarchische Bewertungen vorgenommen, welche die überlegene und welche die abgewertete Kultur sei.
Wie definieren Schüler*innen „deutsch“, wo kommen diese Bilder her?
Elina Marmer: „Deutsch“ wird anhand des Aussehens und des Namens definiert. Dabei ist es meistens egal, wo die Person geboren wurde, ob sie seit mehreren Generationen in Deutschland lebt und ob sie sich „deutsch“ fühlt. Gleichzeitig gilt „deutsch“ als überlegen. Diese Kombination führt zu Rassismus. Auch in den Elternhäusern ist diese Einstellung weit verbreitet. Dazu ist diese starre Aufteilung noch in den Veröffentlichungen der Beauftragten für Kultur und Medien des Bundes und in den Hamburger Bildungsplänen zu finden. So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass junge Menschen diese Sicht übernehmen.
Wie und wo kommt es zu der Reproduktion und Normalisierung von Rassismen und anderen Diskriminierungsformen im Schulalltag?
Louis Henri Seukwa: Wir haben auch Unterrichtsinhalte analysiert. So wird zum Beispiel in dem Fach Geschichte die Historie deutscher Minderheiten verschwiegen. Dabei haben Nicht-Weiße und Menschen nicht-christlicher Religion genauso zur Entwicklung Deutschlands beigetragen; sie aber kommen im Geschichtsunterricht nicht vor! So auch bei der deutschen Kolonialgeschichte, die entweder ganz verschwiegen, oder nur aus der Perspektive der Kolonisator*innen erzählt wird.
Deutsche Gewaltgeschichte wird beschönigt und die Perspektive der Kontinuität des kolonialen Überlegenheitsglaubens zur mörderischen Entmenschlichung wie im Nazireich geschehen, gar ausgeblendet. So wird die Überlegenheitsideologie fortlaufend und subtil tradiert. Nehmen wir das Fach Geographie: hier werden westliche Gesellschaften als entwickelt, überlegen und helfend dargestellt, so-genannte „Schwellenländer“ dagegen als zurückgeblieben und hilfsbedürftig. In Fächern wie Physik, Mathematik oder Chemie bleiben Entdeckungen und Erfindungen von Menschen aus den Ländern, die auf diese Weise abgewertet werden, meist verschwiegen. Aber auch in den Fächern Kunst, Musik und Literatur ist es ähnlich bestellt. So wird ein minderwertiges Bild von Menschen aus diesen Ländern durch Bildungsinhalte reproduziert und rassistisches Wissen verfestigt. Deshalb ist es dringend geboten, eine Bildungsreform in Deutschland zu initiieren, um diesen Missstand zu korrigieren.
Wie können von Diskriminierung betroffene Schüler*innen besser geschützt werden?
Elina Marmer: Die von Diskriminierung Betroffenen müssen sich beschweren können. Die Beschwerdestelle muss dabei unabhängig und mit ausreichenden finanziellen und personalen Ressourcen ausgestattet sein. Und die dort Mitarbeitenden brauchen Befugnisse, den Missständen nachzugehen und Veränderungen zu bewirken wie beispielsweise entsprechende Schulungen anzuordnen. So kann es im Fall einer Wiederholung zu Sanktionierungen kommen.
Welche übergeordneten Ziele verfolgt das Forschungsprojekt bzw. das Policy Briefing im Konkreten?
Louis Henri Seukwa: Das Forschungsprojekt möchte zu einem Kulturverständnis beitragen, das offen und nicht starr oder segregierend wirkt. Wir streben eine Erkennung und Anerkennung kultureller Beiträge aller Menschen und eine Wertschätzung aller Identitäten an, um ein Leben in Vielfalt und Differenz zu ermöglichen. In der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Hamburger Organisationen haben wir uns darauf geeinigt, konkrete Handlungsempfehlungen für den Bereich Schule zu erarbeiten. Denn die Forschung hat gezeigt, dass die Schule einen wichtigen Einfluss auf die kulturellen Wissensbestände junger Menschen nimmt und vom Staat am ehesten zu beeinflussen ist.
Welche Zukunft hat eine Gesellschaft, die diese Themen nicht angeht?
Louis Henri Seukwa: Eine Gesellschaft, die keine gleichberechtigte Vielfalt zulässt, hat unserer Auffassung nach, keine Zukunft. Eine Gesellschaft, in der es um eine vermeintliche Überlegenheit statt Vielfalt geht, wird Krisen und Herausforderungen nicht gewachsen sein. Die planetarische Natur der gegenwärtigen Krisen zwingt uns, eine planetarische Front der Einheit in Vielfalt und Differenz zu bilden. Dies ist keine Utopie, denn trotz unserer Differenzen, sind wir alle menschlich!
Liebe Frau Dr. Marmer, lieber Prof. Seukwa, wir danken für das Gespräch.
(Interview: Dr. Katharina Jeorgakopulos)