POLICY BRIEF: Kulturelles Erbe und Identitäten im Europa der Zukunft

Cultural Heritage and Identities of Europe’s Future (CHIEF) ist ein von der Europäischen Kommission gefördertes und von der Aston University (GB) koordiniertes internationales Forschungsprojekt mit Beteiligung der HAW Hamburg sowie Projektpartner*innen aus acht weiteren Ländern (Kroatien, Georgien, Indien, Lettland, Slowakei, Spanien, Türkei, GB).

DAS PROJEKT

  • untersucht mit einem interdisziplinären und methodisch vielfältigen Ansatz die Prozesse und Rahmenbedingungen, die kulturelle Bildung und kulturelle Identitäten junger Menschen prägen;
  • setzt sich für eine inklusive Interpretation des europäischen Kulturerbes als Grundlage für kulturelle Bildung und kulturelle Identitäten ein;
  • problematisiert ethno-nationalistische, rassistische oder anderweitig ausschließende Auffassungen europäischer kultureller Identitäten, die zu Diskriminierung und Marginalisierung führen können und das Zusammenleben in Europa bedrohen;
  • empfiehlt wirksame Strategien zur Verbesserung der kulturellen Kompetenz junger Menschen, welche die Vielfalt und Heterogenität kultureller Hintergründe und kulturellen Erbes als historisches Merkmal Europas widerspiegeln.

Dieses Briefing skizziert die wichtigsten Befunde und die damit verbundenen politischen Empfehlungen, die auf Hamburger Forschungsergebnissen basieren und in Zusammenarbeit mit Vertreter*innen institutioneller Einrichtungen und zivilgesellschaftlicher Initiativen sowie jungen Menschen erarbeitet wurden. Unsere Forschung zeigt auf, dass in der Bildungspraxis in verschiedenen Settings (formal, non-formal, informell) eine problematische Relation zwischen dem Kulturverständnis und Rassismen (Antisemitismus, anti-Schwarzer Rassismus, antimuslimischer Rassismus, Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze, antiasiatischer Rassismus u.a.) besteht. Mittels mehrerer Workshops mit Stakeholdern aus unterschiedlichsten Bildungsbereichen wurde konsensual entschieden, den Schwerpunkt auf die Bearbeitung dieser Problematik in der Institution Schule zu setzen. Denn Schulen stellen qua gesellschaftlichen Auftrag einen zentralen Ort der Bildung der Bürger*innen eines Staates dar. Mit diesem Policy Brief möchten wir Anregungen zur Lösung des identifizierten Problems in Schulen vorschlagen. Dies zielt darauf ab, eine rassismuskritische Auseinandersetzung auf allen Ebenen der pädagogischen und politischen Bildungsarbeit verpflichtend zu machen.


RESÜMEE

Begrenzte und problematische Auffassungen von Kultur
Im Rahmen des CHIEF-Projekts haben wir für den Standort Hamburg die Rahmenbedingungen der formalen und non-formalen kulturellen Bildung sowie kulturelle Identitäten junger Menschen erforscht. Gegenstand dieser Forschung waren Untersuchungen in der Sekundarstufe I verschiedener Hamburger Schulen, an denen wir Schüler*innen und Lehrer*innen befragten. Des Weiteren konzentrierte sich die Forschung auf Organisationen der Zivilgesellschaft und Stätten der Erinnerungskultur. Im informellen Bildungsbereich beobachteten wir Jugendgruppen und befragten Familien. Ein Ergebnis dieser Forschungsarbeit zeigt eine begrenzte Auffassung von Kultur und kulturellem Erbe. Das Verständnis von Kultur wird oft eindimensional interpretiert und basiert auf einer dominant weißen und eurozentrischen Perspektive, wenn beispielsweise nur Europa als fortschrittlich und kulturell überlegen markiert wird. Insbesondere wird „Kultur“ als Erklärung herangezogen, um Ausschlüsse, Rassismen und andere Diskriminierungen zu begründen.

Unzulängliche institutionelle Förderung kultureller Vielfalt und Teilhabebarrieren für Jugendliche
Ein weiteres Ergebnis unserer Forschung ist, dass kulturelle Vielfalt und Pluralismus in der Institution Schule zu wenig vermittelt werden und kaum inklusive Maßnahmen bestehen, weshalb aus der Sicht vieler junger Menschen das Gefühl der „Einbeziehung“ und der „vollständigen Zugehörigkeit“ fehle. Ausschlaggebend dafür sind auch die Barrieren und die begrenzten Räume für die Vertretung von Jugendinteressen und -identitäten, sowie begrenzte Beteiligungsmöglichkeiten an Entscheidungsprozessen, wodurch ein nachhaltiges Engagement von jungen Menschen gehindert und limitiert wird.

Reproduktion und Normalisierung von Rassismen und anderen Diskriminierungsformen im Schulalltag
In schulischen Strukturen und im Schulalltag werden Rassismen in Wechselwirkung mit weiteren Diskriminierungsformen wie Sexismus, Ableismus (Behindertenfeindlichkeit), Heteronormativität u.a. (re-)produziert und normalisiert. Dies geschieht beispielsweise, indem Lehrmate¬rial und -bücher mit rassistischen Inhalten Bestandteil des Unterrichts sind. Schulleitungen und Lehrkräften ist es oft nicht möglich, Rassismen nachzugehen und eigenes diskriminierendes Handeln zu reflektieren, sodass sie diese oft selbst reproduzieren. Zentral ist ebenfalls die Erkenntnis, dass ein Zusammenhang zwischen Rassismus, Diskriminierungen und Beeinträchtigung psychischer Gesundheit besteht, welche wiederum mit Schulleistungen verbunden ist. Von Diskriminierung Betroffene stehen oftmals allein da, weil weder Maßnahmen noch Konsequenzen bei Diskriminierung bestehen und keine transparente Aufarbeitung und Zuständigkeiten in den Schulen existieren. Das Fehlen unabhängiger Beratungs- und Anlaufstellen für Schüler*innen und Lehrer*innen mit Diskriminierungserfahrungen machen diese unsichtbar. Das Diskriminierungsverbot ist zwar im Grundgesetz und im Allgemeinen Gleichstellungsgesetz verankert, jedoch sind entsprechende Strukturen in der Institution Schule kaum vorhanden, sondern nur auf zivilgesellschaftlicher Ebene. Dies hat letztendlich benachteiligende Effekte und führt zur Ungleichbehandlung für Schüler*innen und Lehrer*innen, die Diskriminierungserfahrungen machen.

Fehlender Diskriminierungsschutz an Schulen
Unsere Forschung zeigt, dass diese Mängel tiefgreifende Auswirkungen auf den Schulalltag und das alltägliche Leben der Betroffenen haben. Infolge fehlender unterstützender Maßnahmen bei aufkommenden Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen sind Schüler*innen und Lehrkräfte gänzlich allein gelassen, Lösungen zu finden und müssen die Folgen von rassistischen sowie diskriminierenden Strukturen und Handlungen in den Schulen mit sich selbst ausmachen. Durch den strukturell fehlenden Schutz- und Handlungsrahmen zur Implementierung von Maßnahmen gegen Rassismus und Diskriminierungen im schulischen Kontext können die proklamierten Absichten, Bildungserfolge für alle Berechtigten zu sichern, nicht realisiert werden. Gleichzeitig können sich Betroffene wegen der Schulpflicht den Diskriminierungserfahrungen, ohne zusätzliche negative Konsequenzen zu befürchten, nicht entziehen. 
 

EMPFEHLUNGEN ZUM ABBAU VON RASSISMEN

1. Implementierung einer Antidiskriminierungskommission für Schulen
Die Kommission handelt unabhängig und sollte von der Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB) und der Behörde für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke (BWFGB) nachhaltig gefördert werden. Sie soll mehrheitlich aus Expert*innen zusammengesetzt werden, die selbst gesellschaftlich marginalisierte resp. rassistisch markierte Gruppen oder Communities repräsentieren. Die Kommission agiert nicht nur im Auftrag der Schule, sondern kann auch von anderen schulbezogenen Akteur:innen (Bsp. Eltern und Schüler*innen) angefordert werden.

Die Aufgaben der Kommission umfassen unter anderem:

  • Die Prüfung der Bildungspläne und der Curricula der Lehrer:innenaus-, -weiter- und -fortbildung nach rassismuskritischen sowie diversitätsbewussten Ansätzen.
  • Die Erarbeitung von curricularen Inhalten für Schule und Lehrer:innenbildung, die zum nachhaltigen Abbau rassistischer Wissensstrukturen dienen: u.a. kritische Vermittlung deutscher und europäischer Kolonialgeschichte und deren Kontinuitäten in der Gegenwart, Analyse postkolonialer Machtverhältnisse und globaler Ungleichheit, Vermittlung nichtweißer deutscher Geschichte (z.B. Schwarze Geschichte, Geschichte der Rom*nja und Sinti*zze, u.a.), Dekonstruktion deutsch- und eurozentristischer Narrative, perspektivistische Pluralität, kritische Betrachtung von Afrika-Narrativen usw.
  • Die verbindliche Zulassung von Schulbüchern nach rassismuskritischen sowie diversitätsbewussten Ansätzen sowie Beratung von Schulbuchverlagen.
  • Die Beratung von (Hochschul)Lehrenden hinsichtlich der Entwicklung von rassismuskritischen sowie diversitätsbewussten Curricula für die Lehrer*innenaus-, -weiter- und -fortbildung.
  • Die fachliche Unterstützung bei der Entwicklung eines verbindlichen Verhaltenscodex an allen Schulen und das Festlegen eines diversitätssensiblen Leitbildes in Schulen.
  • Die Erarbeitung eines verpflichtenden und regelmäßigen Fortbildungsrahmens zur rassismuskritischen und diversitätsbewussten Führung für Schulleitungspersonal.
     

2. Implementierung einer unabhängigen, staatlich finanzierten Beschwerdestelle für Rassismen und andere Diskriminierungsformen an Schulen.
Die Beschwerdestelle ist mehrheitlich aus Expert*innen  marginalisierter resp. rassistisch markierter Gruppen oder Communities zusammengesetzt.  Sie arbeitet eng zusammen mit bereits bestehenden außerschulischen Beratungsstellen in Hamburg.

Die Beschwerdestelle

  • verfügt über die Möglichkeiten, entsprechende Sanktionen für Lehrpersonen und Schulen verbindlich anzuordnen (bspw. verpflichtende Seminare und Fortbildungen, Workshops, Geldbußen, Schulverweise).
  • dokumentiert rassistisches Verhalten ab dem Referendariat    und bezieht dieses in die Bewertung der Staatsprüfung angehender Lehrer*innen ein.
     

3. Implementierung von unabhängigen und fachkundigen Ansprechpartner*innen  an jeder Schule
Diese bilden eine Schnittstelle zwischen der Antidiskriminierungskommission, der Beschwerdestelle und den Schulen. Ansprechpartner*innen haben Zugriff auf alle dokumentierten Geschehnisse und  sorgen in den Schulen für die effektive Umsetzung von allen präventiven und kurativen Maßnahmen gegen Rassismen und andere Diskriminierungen.
 

AUTOR*INNEN
HAW Forschungsteam: Prof. Dr. Louis Henri Seukwa, Dr. Elina Marmer, Dr. Cornelia Sylla, cand. M.A. Awista Gardi, B.A. Anna van Hoorn

ARBEITSGRUPPE     
LI Hamburg, BKM Hamburg, Hamburger Jugendparlament, Black Community Hamburg, MosaiQ-Hamburg/ikm-Hamburg, Arrivati e. V., Arbeitskreis Hamburg Postkolonial, Bildung Macht Rassismus, Lukulule e.V., ARCA – Afrikanisches Bildungszentrum e.V., MBT Arbeit und Leben, Joseph-Carlebach-Bildungshaus, Geschwister-Scholl-Schule, Goethe Schule

Arbeitsstelle Migration
Gotenstr. 11
20097 Hamburg

ANSPRECHPARTNER     
Prof. Dr. Louis Henri Seukwa
louishenri.seukwa(@)haw-hamburg.de

WEITERE INFORMATIONEN    
Projektwebseite
http://chiefprojecteu.com

Mapping Reports of Cultural Heritage
http://chiefprojecteu.com/deliverables/mapping-reports-of-cultural-heritage/

National Cultural/Educational Policy Review
http://chiefprojecteu.com/deliverables/national-cultural-educational-policy-review/

National Curriculum Review Reports
http://chiefprojecteu.com/deliverables/national-curriculum-review-reports/

Policy Briefing 1
http://chiefprojecteu.com/deliverables/policy-briefing-1/