001-Tiefziehen

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Transkript

Es ist Zeit für ein wenig Fertigungstechnik. Diesmal soll es ums Tiefziehen von Metallen gehen.

Ich mache jetzt mal eine gewagte Voraussage: In jedem Haushalt in Deutschland steht oder liegt mindestens ein Gegenstand, der mittels Tiefziehen hergestellt wurde.

In der Küche das Spülbecken? - Klar, wenn es aus Metall und nicht aus Kunststein ist.

Im Bad die Bade- oder Duschwanne? Wenn sie aus Metall ist. Eine Cremedose oder Haarsprayflasche? Vorsicht, Deo- oder andere Spraybehälter könnten auch fließgepresst sein, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.

Aber spätestens der einfache Edelstahltopf in der Küche ist tiefgezogen. Und? Habe ich Recht behalten?

Aber wie stellt man denn die Form des Topfs nun aus dem Blech her?

Probieren wir erstmal das Naheliegende: Ein Stempel (in diesem Fall ein stabiler Zylinder aus Stahl als Oberwerkzeug) drückt die Platine (ein zugeschnittenes Blech) in eine Form (hier Ziehring genannt).

Dabei entsteht dann leider so eine Mischung aus Aschenbecher und Kronkorken: Am Rand wölben sich Wellen auf. Würde man weiter drücken, würden sich die Falten übereinanderlegen und später den Ziehring sprengen.

Und woran liegt das? Ich versuche mal aus einem zylindrischen Napf eine flache Blechabwicklung zu erzeugen. Dazu schneide ich die Mantelfläche des Topfes senkrecht in schmale Streifen und biege sie am Boden um. So erhalte ich eine Art Sonne, wo zwischen den abstehenden, rechteckigen Strahlen freie Dreiecke entstehen: Die sogenannten charakteristischen Dreiecke.

Ich will aber nicht so ein kompliziertes Muster ausschneiden, alle Strahlen hochbiegen und dann die ganzen Spalten zuschweißen.

Bislang sieht es auch eher nach Tiefdrücken aus.

Ich beschreibe mal ein Beispiel für das, was da passieren soll:

100 Personen stellen sich locker im Kreis auf, so dass sie sich noch an den Händen fassen können, das entspräche dem Rand der Platine. Nun sollen alle Personen versuchen, gleichmäßig in die Mitte zu gehen. Zunächst einmal gibt es keine Probleme, bis die Leute Schulter an Schulter stehen. Mit genügend Überredungskunst, versuchen sie es weiter. Die erste Idee: „Wir stellen uns aufeinander!“ Das entspricht den Wellen, die sich eben in dem Blech gebildet haben.

Ich ziehe also eine Zwischendecke ein, stapeln geht nicht mehr. Diese Funktion erfüllt beim Tiefziehen der Niederhalter. Das ist ein breiter Ring, der den Stempel umgibt und auf die Platine drückt, die wiederum auf dem Ziehring aufliegt.

Was die Personen gerade auf jeden Fall merken, ist, dass es an den Schultern wehtut. Es gibt da einen tangentialen Druck. Wie können sie jetzt noch zum Ziel kommen? Vielleicht dreht sich jemand ein wenig seitwärts, jemand bleibt einen Schritt zurück, lässt jemanden vor.

Genau das passiert auch mit und in den Kristalliten, aus denen das Blech zusammengesetzt ist. Das Material beginnt durch die tangentialen Druck- und radialen Zugspannungen zu fließen.

Damit wäre auch geklärt, dass das Verfahren nach DIN 8580 in die Untergruppe des Zug-Druck-Umformens gehört, da in der Umformzone Zug- und Druckspannungen in ähnlichem Maße wirken.

Das Material fließt also zur Mitte, wird um den Ziehringradius gebogen und bildet dann den Topfrand.

Ich halte an dieser Stelle kurz an und betrachte den Zustand: Es gibt jetzt drei Bereiche:

·       Den Boden: Der war vorher flach und ist es immer noch. Hier ist nichts passiert.

·       Die Zarge: Das ist der Teil, der schon wie Topfrand aussieht. Sie  ist schon fertig, hier passiert „im Prinzip“ nichts mehr

·       Der Flansch: Das ist der Bereich, der gerade zwischen Ziehring und Niederhalter steckt und wo die Umformung passiert.

Dementsprechend ist es also so, dass die Kraft vom Stempel in den Boden eingeleitet und dann von der Zarge in den Bereich übertragen wird, wo sie gebraucht wird. Die Zarge zieht also das Material tief in die Form hinein: Tiefziehen.

Oder wie es in der üblichen Definition heißt: „Tiefziehen ist das Zug-Druck-Umformen eines Blechzuschnitts in einen einseitig offenen Hohlkörper ohne eine gewollte Veränderung der Blechdicke.“

Das wäre also geklärt.

Wieviel Material ich für meinen Topf brauche, kann ich mir recht einfach ausrechnen. Die goldene Regel der Umformtechnik ist die Volumenkonstanz: Es kommt nichts dazu und es wird nichts weniger. Bei gleichbleibender Blechdicke muss also auch die Fläche vor und nach der Umformung identisch sein.

Vor der Umformung haben wir eine Kreisfläche. Nach der Umformung nehme ich für den Topf mal eine zylindrische Mantelfläche und einen kreisrunden Boden an. Der Bodenradius wird ignoriert.Die beiden Flächen setze ich gleich und forme alles nach dem Durchmesser der Platine um.

Bei nicht-runden Näpfen wird es etwas komplizierter.

Damit kann ich jetzt einen wichtigen Kennwert für das Tiefziehen ausrechnen: Das Verhältnis aus Platinendurchmesser und Stempeldurchmesser nennt man Tiefziehverhältnis.

Jetzt, wo ich die Folge gerade schreibe, ist Mai. Die Spargelsaison ist in vollem Gange, die Kunden wollen gerne Spargeltöpfe haben, schlank und hoch.

Ich rechne also über die Formel von eben den neuen Platinendurchmesser aus, schneide die Ronde zu und ab in die Presse.

Es knallt. Wie bei einem kaputten Zylinderhut in einem alten Film steht der Boden des Napfes hoch und ist fast vollständig von der Zarge abgerissen, obwohl der Napf noch gar nicht weit gezogen ist: Ein Bodenreißer.

Wie konnte das passieren?

Im Flansch ist jetzt mehr Material auf einen noch kleineren Durchmesser umzuformen. Das bedeutet, dass die Zarge mehr Kraft zur Umformzone übertragen muss. Wieviel Kraft kann sie denn überhaupt übertragen?

Vorrangig herrscht in der Zarge eine Zugspannung. Die maximal übertragbare Kraft, die Bodenbruchkraft, ergibt sich also in erster Näherung aus Querschnittsfläche und Zugfestigkeit, wobei die Querschnittsfläche ein Kreisring orthogonal zur Zugrichtung ist.

Es gibt also eine Rondengröße, ab der dieser Topf nicht mehr herstellbar ist. Dieser Punkt heißt Grenztiefziehverhältnis und wird üblicherweise experimentell ermittelt.

Das soll für heute erstmal reichen.

Warum es trotzdem Spargeltöpfe und Deoflaschen gibt, erkläre ich dann in der Folge „Tiefziehen im Folgezug“. Die Zipfeligkeit des Napfes findet sich in der Folge über die Anisotropie wieder.

Und noch einmal etwas ganz anderes: Der Unterschied zwischen Umformgrad und Umformwirkungsgrad ist größer als man denkt.

 

geschrieben von B. Remmers
eingesprochen von B. Remmers

Shownotes