016-DFAM - Design for Additive Manufacturing

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Transkript

Hallo - es ist wieder Zeit für etwas Fertigungstechnik

Ich bin Jens Telgkamp, Professor am IPT der HAW Hamburg. Und wie meist, wenn ich das Mikrofon aufbaue, geht es um Additive Fertigung, auch hier wieder kurz als AM bezeichnet für „Additive Manufacturing“.

Wenn bislang hauptsächlich die Frage im Mittelpunkt stand, wie additive Fertigungsverfahren überhaupt funktionieren, und wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelt haben, dann geht es heute darum, wie ich ein Produkt entwickeln kann, das tatsächlich von der additiven Fertigung profitiert.

Ich fange mal bewusst etwas negativ an: Ich vermute, dass es ziemlich viele Leute gibt, die sich einen 3D-Drucker für zu Hause kaufen, und dann erstaunlich wenige Anwendungen dafür haben. Sie haben sie das Teil gekauft, weil sie von der Technik fasziniert sind, weil sie neugierig sind oder weil sie Lust darauf haben, den Drucker zu bauen und dann am Ende laufen zu sehen. Dabei mussten sie zu Hause eine ganz ordentliche Überzeugungsarbeit leisten, um den Drucker überhaupt aus dem Haushaltsbudget bestellen zu dürfen. Das Thema hatten wir schon mal…  Vielleicht müssen unsere Kamikazekäufer*innen dann ja sogar noch etwas kaputtmachen, um sich ein Ersatzteil drucken zu können. Ich stelle mir vor, dass in dem Zusammenhang dann oft der Satz fällt:

„Schatz, was für ein Glück, dass wir den 3-Drucker haben! Ich mache mich gleich daran, ein passendes Ersatzteil zu konstruieren!“ – Woraufhin sie in ihrem Arbeitszimmer verschwand und mehrere Wochen nicht mehr gesehen wurde.

Mal etwas ernsthafter: Das Problem eines nicht gut genutzten 3D Druckers bzw. einer additiven Fertigungsmaschine tritt nicht nur zu Hause auf, sondern auch in Unternehmen beispielsweise des Maschinenbaus. Da ist es dann der Abteilungsleiter oder gern auch die Abteilungsleiterin, die früher oder später fragt was da los ist: Wie kann es sein, dass ein Gerät zwar diverse Geometrien herstellen kann, aber doch nichts Sinnvolles zu tun hat? Es hängt wohl damit zusammen, dass beim 3D-Druck der Besitz und das Beherrschen der Hardware bei Weitem nicht alles sind, eigentlich noch nicht einmal das Wichtigste. Ohne die passende Denkweise im Produkt – neudeutsch „DFAM; Design for Additive Manufacturing“ – nützt der 3D-Drucker eben auch nichts. Es geht um Ideen, das Denken im Produkt und das Durchbrechen traditioneller Denkmuster.

Was gehört denn alles zu DFAM? Erstmal sind das die Gestaltungsregeln, die ich beachten muss, wenn ich ein Bauteil für ein AM Verfahren konstruiere. Das ist nicht besonders überraschend. Wenn ich ein Gussbauteil konstruiere, muss ich darauf achten, dass ich gussgerecht konstruiere. Also Ausformschrägen vorsehe, Vorsicht bei Hinterschneidungen, starke Sprünge in der Wanddicke und unnötige Materialanhäufungen vermeiden etc. Wenn ich ein Fräsbauteil konstruiere, muss ich darauf achten, dass ich das Teil für jeden Bearbeitungsschritt aufspannen kann und immer eine passende Zugänglichkeit für mein Werkzeug habe. Und bei AM? Da gibt es solche Regeln natürlich auch. Das ist nichts Besonderes, sondern einfach nur in Analogie zu den etablierten Fertigungsverfahren zu sehen.

Doch DFAM geht weiter, geht über „einfache“ Konstruktionsregeln hinaus: Das besondere an AM ist, dass ich eine Gestaltungsfreiheit habe wie bei keinem anderen Fertigungsverfahren. Und es gibt diese Gestaltungsfreiheit in Form der sogenannten „Complexity for free“. Komplexität kann ich nämlich auch in anderen Fertigungsverfahren erreichen. Aber eben nicht „for free“, sondern teuer bezahlt. Wenn beispielsweise eine sehr komplexe verschlungene Struktur gefräst werden soll, dann gehören diverse Umspannvorgänge und Werkzeugwechsel dazu, um das Bauteil überhaupt als Fräsbauteil hinzubekommen. Anders bei AM: Ich bezahle hauptsächlich für das Rohmaterial und die Zeit auf meiner 3D Maschine. Beides hängt hauptsächlich von der Menge an aufgetragenem Material ab, letztlich also vom Bauteilgewicht. AM ist die erste Technologie, bei der es einigermaßen sinnvoll ist, die Kosten für ein Bauteil nach dessen Material und Gewicht anzugeben, nicht aber nach der Komplexität. Ich kaufe das AM Bauteil wie das Gemüse auf dem Wochenmarkt: nach Gewicht.

Was sind die Aspekte, in denen AM gegenüber konventionellen Fertigungsverfahren punkten kann?

  • Erstmal die Möglichkeit der Individualisierung. Ich brauche kein Werkzeug, weder eine Gussform, noch eine spezielle Spannvorrichtung oder ein Gesenkschmiedewerkzeug, um mein AM Bauteil herzustellen. Dadurch kann das nächste Bauteil auch ohne Mehrkosten anders aussehen als das zuvor gedruckte. Einfach eine neue Geometrie im digitalen Datensatz und ein neues Druckergebnis. Oder ich habe in einem einzigen Baujob diverse individualisierte Bauteile angeordnet. Die Tatsache, dass diese Bauteile alle unterschiedlich sind, macht den Baujob nicht teurer, als wenn alle gleich wären. Beispiel: eine Bauplatte voll mit individualisierten Hörgeräteschalen für individuelle Patienten.
  • Neben der Individualisierung gibt es die Möglichkeit, mehrere Bauteile in eines zu integrieren. Die dadurch entstehende komplexere Geometrie kann von den AM Fertigungsverfahren meist gut geschafft werden. Der Vorteil ist klar – ich muss dann später nicht mehr diverse Bauteile zu einer Baugruppe montieren, sondern habe bereits die ganze Baugruppe aus der AM Maschine, also meinem 3D Drucker. Oft ist die Lösung in einem einzigen Bauteil auch robuster und leistungsfähiger. Eine Unterart der Baugruppenintegration ist dann die Funktionsintegration. Wenn es mir also zum Beispiel gelingt, mehrere Funktionen in ein Bauteil zu integrieren, ermöglicht durch die Gestaltungsfreiheit von AM.
  • Neben den Möglichkeiten der Individualisierung und der Bauteil- und Funktionsintegration bietet AM eine weitere wichtige Möglichkeit: Die Gestaltung von funktionsoptimierten Bauteilen. Während bei konventionellen Bauteilen – z.B. konstruiert für eine Herstellung im NC Bearbeitungszentrum – das Design stark am Herstellungsverfahren orientiert ist, kann ich als AM Bauteildesigner direkt im Bauteil denken. Wenn das Bauteil beispielsweise eine Form annimmt, die optimal für die zu tragende Belastung gestaltet ist, ist das für AM meist kein Problem. Ein komplex geformtes Bauteil zu drucken ist für eine AM Maschine kaum aufwändiger und teurer als ein ganz einfaches Bauteil gleicher Masse zu fertigen. Beim Fräsbauteil sieht man meist, in welchen Ebenen das Fräswerkzeug seine Bahnen gedreht hat, während das AM Bauteil in allen Richtungen organisch anmutende Rundungen und weiche Übergänge haben kann.

Speziell der letzte Punkt – funktionsoptimierte Bauteile – bietet viele Möglichkeiten, verlangt uns aber auch einiges an Kenntnissen und Fähigkeiten ab. Einige der Techniken, die zum Einsatz kommen, werden hier kurz erklärt

  • Strukturoptimierung oder spezieller Topologieoptimierung: einfach gesagt wird das Material von einem Algorithmus so im Raum verteilt, dass die zu tragenden Lasten bestmöglich ertragen werden und die Steifigkeit des Bauteils gegebenenfalls möglichst hoch ist. Das Material wird also durch einen Algorithmus im Raum verteilt, und dabei entsteht die Form des Bauteils. Topologieoptimierung ist nicht neu, aber die Verbindung mit der Gestaltungsfreiheit von AM macht die Technologie interessant.
  • Ähnlich der Topologieoptimierung: das generative Design. Hier kommen evolutive Algorithmen dazu. Wir Designer tun das, was die Natur auch ständig macht: einfach eine große Vielfalt von Variationen erzeugen und dann entscheiden, welche Variante den Fitness Vorteil hat und weiterkommt.
  • Neue Verfahren, beispielsweise das DNA basierte Design der Firma ELISE.
  • Multikriterielle Optimierung: zum Beispiel eine Hydraulik Komponente so optimieren, dass einerseits die strömungsmechanische Funktion in Richtung eines Optimums geht, andererseits die Menge des verbauten Materials und damit die Masse des neuen Bauteils ideal wird.
  • Und natürlich viele mehr…

Zum Schluss sei noch erwähnt, dass der „Business Case“ bei einer Umstellung von konventioneller Fertigung oft erst dann gegeben ist, wenn mehrere der erwähnten Vorteile in Kombination genutzt werden. Es wird beispielsweise ein relativ klotziges Fräsbauteil in ein elegantes und leichtes topologieoptimiertes Bauteil verwandelt, das aussieht, als hätte Herr Colani persönlich es designed. Gleichzeitig ermöglicht das Design den Ersatz einer ganzen Baugruppe durch ein integriertes Bauteil, welches auch noch ein paar Zusätzliche Funktionen erfüllt. Dann ist die zuvor erwähnte strenge Vorgesetzte zufrieden und die 3D Drucker in meiner Abteilung laufen 24/7.

 

geschrieben von Jens Telgkamp
eingesprochen von Jens Telgkamp