021-Die Randzone

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Transkript

Es ist mal wieder Zeit für ein wenig Fertigungstechnik.
In Episode 19 hatte ich über die Bauteilqualität, speziell über die Gestaltabweichungen gesprochen. Ich war durch die 6 Ordnungen von den makroskopischen Abweichungen wie Maß, Form und Lage zu den mikroskopischen Abweichungen in den Körnern und ihrer Kristallgitterstruktur gewandert.
Zum Ende hatte ich den Begriff der „Surface Integrity“ eingeführt:
Die lateinische Wortherkunft von „integritas“ beschreibt in der Bedeutung „Unversehrtheit, Intaktsein, Vollständigkeit“ also zusammenfassend sehr gut, was wir von der Oberfläche unserer Bauteile in der Gesamtheit erwarten. Das deutsche Wort „Randzoneneigenschaften“ ist dagegen eher nüchtern und neutral.
Wir wollen uns im Weiteren ein wenig mehr auf die physikalischen Randzoneneigenschaften fokussieren. Es soll die Oberfläche als Bauteileigenschaft dennoch nicht außer Acht gelassen werden, weil wir von all diesen Merkmalen Oberflächengüte, Gefüge, Härte und Eigenspannungen erwarten, dass sie die Bauteillebensdauer vor allem unter schwingender Beanspruchung beeinflussen. Und gerade diese Lebensdauer können wir gerade in oder nach einem Fertigungsprozess nicht immer zweifelsfrei durch bauteilindividuelle Messungen bewerten. Was das genau heißt, vielleicht dazu noch später.
Kommen wir trotzdem einmal zur Oberflächengüte: In der Fertigungstechnik haben wir oft entweder bildsames oder gesteuertes Formen. In jedem Fall wird die Rauheit der Oberfläche im Wesentlichen dadurch beeinflusst, wie das Werkzeug sich an der Oberfläche des Werkstücks abbildet. In den Hauptgruppen der Fertigungstechnik gedacht, wird das sehr vielschichtig, weil das Beispiel Laserbearbeitung schon zeigt, dass keine unmittelbare Berührung des Werkzeugs im Werkstück stattfindet. Wir müssen daher immer die einzelnen Prozesswirkungen verfahrensspezifisch untersuchen und kennen, um die Einflüsse auf die Oberflächenrauheit beurteilen zu können. Beim Drehen kennen wir auch das Modell der theoretischen Rauheit, die uns aus der Durchdringung des Werkstücks durch das Werkzeugs aus den geometrischen Verhältnissen der Werkzeuggeometrie und des Vorschubs einen Anhaltspunkt für die Rauheit liefert. Jedoch merken wir bei kleinen Vorschüben und somit kleinen Spanungsdicken, dass die gemessenen Werte von der theoretischen Rauheit immer stärker abweichen, was auf andere Effekte in der Entstehung des Spans zurückführen ist. Wir müssen also noch genauer hinsehen, was und wo etwas an unserem Bauteil passiert.
Wir wissen aus der Werkstoffkunde und Betriebsfestigkeitslehre eines: Die Rauheitsspitzen und -täler wirken wie oberflächliche Kerben und führen an diesen Stellen zu lokalen Spannungsüberhöhungen im Bauteil, die sich mit den Lastspannungen während des Betriebs überlagern können. Im ungünstigsten Falle sind dies fertigungsbedingte Zugeigenspannungen mit lastbedingten Zugspannungen.
Ohne jetzt tiefer in die Entstehungsmechanismen einzutauchen können wir uns eines merken:
1. mechanische Prozesswirkungen führen an der Bauteiloberfläche und auch unterhalb überwiegend zur Ausbildung von Druckeigenspannungen
2. thermische Prozesswirkungen, also die Erwärmung der Bauteiloberfläche, führen in der Regel zu Zugeigenspannungen
Jetzt kommt noch der Hinkefuß: diese Wirkungen können und werden sich im Bauteil überlagern und das auch noch, wie zuvor erwähnt, mit den betriebsgedingten Lasten in unserem Bauteil.
Und da wissen wir, dass sich Druckspannungen eher günstig, Zugspannungen eher ungünstig auf die Festigkeit der Werkstoffe unseres Werkstücks auswirken. Zugspannungen führen im Vergleich zu Druckspannungen eher zur Rissbildung und endgültigem Bauteilversagen. Nicht gut, oder?
Die Schwierigkeit dabei ist nun: Diese Veränderungen im Bauteil an und unter der Oberfläche lassen sich oft nur unzureichend genau, vor allem unter den Randbedingungen unserer hochproduktiven Fertigungsprozesse und -abläufe mit Messungen ermitteln. Röntgendiffraktometrie wird überwiegend für die Suche nach fertigungsbedingten Eigenspannungen verwendet, jedoch haben diese Messungen oft eher Laborcharakter. Die Bauteile können nicht zu 100% gemessen werden, allein oft wegen der dafür notwendigen Messzeiten. Hinzu kommt, dass eine Messung unterhalb der Oberfläche oder auch in bestimmten Bauteilbereichen oft nicht zerstörungsfrei möglich ist, was die Weitergabe des Bauteils als Gutteil ausschließt: Die Messteile werden automatisch zu Ausschussteilen. Die Fehlerkosten steigen dann! Bei diesen Messungen ist außerdem sorgsam zu beachten, dass der fertigungsbedingte Eigenspannungszustand, den wir eigentlich erfassen wollen, auch durch die messbedingt erforderliche Präparation der Bauteile beeinträchtigt werden kann.
Neben den Wirkungen auf die Eigenspannungen im Bauteil können die oberflächennahe, starke thermische Erwärmung der Bauteiloberfläche und die durch Bearbeitungskräfte auftretenden Druckbeanspruchungen Gefügeänderungen im Bauteil hervorrufen. Die Wirkung ist ähnlich wie bei herkömmlichen Wärmebehandlungsverfahren. Wobei die Zeiten, in denen diese Aufheiz- und Abkühlvorgänge in unseren Fertigungsprozessen ablaufen, meist deutlich kürzer sind als in den von uns technisch genutzten Wärmebehandlungsprozessen wie z.B. dem Härten oder Vergüten. Es ist für uns werkstoffkundlich eine Herausforderung, die Mechanismen der Gefügeumwandlung unter diesen Bedingungen zu verstehen. Wir erkennen dies aber im Gefügeschliffbild unseres Bauteils zum Beispiel als sogenannte Neuhärtungszonen oder beim Schleifen auch als bräunliche Verfärbung der Oberfläche nach einem metallographischen Anätzen. Dies verdeutlicht, dass Veränderungen im Werkstoff durch den Bearbeitungsprozess stattgefunden haben müssen. Wir wissen auch heute schon gut, dass solche Bauteile eine verringerte Lebensdauer bei schwingender Beanspruchung aufweisen können.
Im Zusammenspiel aller Beanspruchungen müssen wir neben den reinen Wirkungen unserer Fertigungsprozesse nach der Bearbeitung auftretende Beanspruchungen betrachten, die sich zusätzlich überlagern können. So führen beispielsweise durch die Fertigung eingebrachte Spannungen im Bauteil durch nachgelagerte Korrosion zur gefürchteten Spannungsrisskorrosion. Dies würde sich unter Umständen als reine Korrosion gar nicht so gravierend auf die Lebensdauer eines Bauteils auswirken.
Die Wissenschaft und industrielle Anwendung arbeiten intensiv an neuen Methoden, um unsere Fertigungsprozesse möglichst zerstörungsfrei hinsichtlich ungünstiger Prozesswirkungen bewerten zu können. Für eine wirtschaftliche Anwendung sollte dies möglichst wenig zeitintensiv sein und effektiv fehlerhafte Teile ausschleusen. Als Beispiele seien mikromagnetische Untersuchungsmethoden, aber auch computertomographische oder thermografische Methoden genannt.
Die Digitalisierung soll mithilfe der Erfassung der Bauteilgeschichte, also der fertigungsbedingten Einflüsse während der Herstellprozesse, und in Verbindung mit künstlicher Intelligenz Prognosen zur erwartbaren Bauteillebensdauer liefern, was ebenso Bestandteil aktueller und künftiger Forschungs- und Entwicklungsarbeiten ist.
Zu guter Letzt: In der Fertigungstechnik beschäftigt man sich seit vielen Jahrzehnten mit den Wirkungen von Fertigungsverfahren auf die Bauteilrandzone und die daraus resultierende Beeinflussung des Bauteilverhaltens. In der spanenden Bearbeitung ist die seit den 1980er Jahren zunehmende Verbreitung des Hartdrehens, auch des Hartfräsens und -bohrens, allgemein der Hartbearbeitung mit geometrisch bestimmter Schneide, im Vergleich zu Verfahren mit geometrisch unbestimmter Schneide, also schleifenden Verfahren, Bestandteil wissenschaftlicher Untersuchungen und der Umsetzung in die industrielle Praxis.
Wie dort spezifische Einflüsse beim Hartdrehen im Vergleich zum Schleifen auftreten, sich diese auf das Bauteil auswirken und wie wir mögliche negative Einflüsse auf das Bauteilverhalten durch Nachbehandlungsverfahren günstig beeinflussen können, werden wir noch in zwei weiteren Folgen unserer Podcastreihe hören!
Bis dahin alles Gute, wenn es wieder heißt: Es ist wieder einmal Zeit für Fertigungstechnik.

geschrieben von Prof. Christian Müller
eingesprochen von Prof. Christian Müller