022-Zerspanprozess

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Es ist Zeit für ein wenig Fertigungstechnik. Heute werfen wir aus großer Flughöhe einen Blick auf den Zerspanprozess. Das „Spanen“ wird nach DIN 8580 der Hauptgruppe 3, dem „Trennen“, zugeordnet. Dies heißt, dass vom Bauteil durch einen spanabhebenden Prozess solange Material „abgetrennt“ wird, bis das Fertigungsziel, wie z.B. eine bestimmte Form-/Maß-/Lagetoleranz oder Oberflächengüte, erreicht wurde. Dazu kommen die unterschiedlichsten Verfahren zum Einsatz, wie z.B. das Drehen, Fräsen, Bohren, Sägen, Schleifen, Läppen etc. etc. Erinnern Sie sich dabei gerne an Ihr eigenes Praktikum, bei dem Sie ziemlich sicher in Kontakt mit dem einen oder anderen Verfahren gekommen sind.
Egal welches Verfahren zum Einsatz kommt: Die Formgebung des Werkstücks erfolgt auf 2 unterschiedliche Art und Weisen. Die 1. Variante entspricht dem Abbilden der Geometrie der Werkzeugschneide in das Werkstück. Bei der 2. Variante wird die Werkstückgeometrie durch eine gesteuerte Relativbewegung zwischen Werkzeug und Werkstück erzeugt.
Ein Beispiel für Variante 1 – also dem Abbilden der Schneidengeometrie – ist das Einbringen einer umlaufenden Nut in eine Welle, in der später z.B. ein O-Ring sitzen soll. Die Schneide taucht radial in das Werkstück ein, und die Nutgeometrie entspricht der Negativform des Werkzeuges. Vorteil dieser Variante ist die sehr einfache Maschinenprogrammierung, Nachteil ist die Inflexibilität, da für eine andere Nutform i.d.R. auch ein anderes Werkzeug eingesetzt werden muss.
Ein Beispiel für Variante 2 – also der Formgebung durch eine gesteuerte Relativbewegung zwischen Werkzeug und Werkstück – ist das Erzeugen einer komplex konturierten Welle. Diese Variante ist deutlich flexibler, da mit einem Werkzeug unterschiedliche Geometrien hergestellt werden können. Jedoch reicht nun ein einfaches radiales Eintauchen der Schneide nicht mehr aus, und bei komplizierten Werkstückgeometrie stoßen Maschinen ohne CNC-Steuerung schnell an Grenzen.
Unabhängig von der gewählten Variante möchte ich den „Zerspanprozess“ systemtechnisch einmal als eine Black-Box ansehen, in die Prozesseingangsgrößen hinein- und Prozessergebnisgrößen hinausführen. Diese Parameter werden auch Operanden genannt. Die Eingangsoperanden werden vor dem Zerspanen festgelegt – sie beeinflussen den innerhalb unserer Black-Box stattfindenden Prozess. Die aus der Box hinausführenden Ausgangsoperanden können ausschließlich nach dem Zerspanprozess betrachtet werden. Sie werden durch die Vorgänge in der Black-Box und somit in hohem Maße auch von den Eingangsoperanden beeinflusst.
Die Festlegung der Prozesseingangsgrößen umfasst u.a.

  • die Wahl des zu bearbeitende Werkstoffs, die i.d.R. auf Basis von Zeichnungsangaben erfolgt,
  • die Wahl des eingesetzten Werkzeugs, was unter Berücksichtigung des zu bearbeitenden Werkstoffs die Festlegung des Schneidstoffs sowie der Werkzeuggeometrie beinhaltet,
  • die Wahl der sog. Prozessparameter wie Schnittgeschwindigkeit, Vorschub oder Zustellung, die auf Basis der gewählten Werkstoff-/Werkzeugkombination auf Literaturangaben oder Erfahrungswissen basiert,
  • die Wahl der verwendeten Maschine, die i.d.R. auf Basis der Werkstückabmaße, ihrer zur Verfügung stehenden Leistungskennwerte und ihrer Steifigkeit beruht, oder
  • die Wahl der eingesetzten Hilfsstoffe, was die Wahl des Kühlschmierstoffs, die Kühlschmierstoffmenge oder die Art der Kühlschmierstoffzuführung betrifft.

Die Auswirkungen der Prozesseingangsgrößen auf den Zerspanprozess können am Ausgang der Black-Box in Form der Ausgangsoperanden beurteilt werden. Die Prozessergebnisgrößen können nach Beendigung des Zerspanprozesses bestimmt werden, wenn also die Maschine stillsteht und ein Blick in den Maschineninnenraum mit Werkzeug und Werkstück geworfen werden kann. Die Prozessergebnisgrößen beurteilen nun

  • das Werkstück, z.B. anhand seiner Oberflächenrauheit oder Randzoneneigenschaften,
  • das Werkzeug, z.B. anhand des nach dem Prozess vorliegenden Verschleißes,
  • die Späne, z.B. anhand der Spanart und -form,
  • die Veränderungen der Maschine, z.B. anhand des Verschleißfortschritts, oder
  • die Veränderungen der Hilfsstoffe, z.B. anhand ihrer chemischen Zusammensetzung.

Die Betrachtung dieser Prozessergebnisgrößen sagt einem erfahrenen Prozessingenieur einiges darüber aus, ob der Zerspanprozess wie gewünscht lief, oder nicht. Entspricht die Werkstückrauheit der Angabe in der Zeichnung? Oder ist sie zu schlecht? Oder sogar zu gut? Ist die Schneide noch scharf genug für weitere Operationen, oder droht sie bald zu brechen und sollte besser getauscht werden? Sind die Späne schön gelockt und kurz, oder haben sich unerwünschte wirre Knäuel gebildet? Antworten auf diese Fragen sind wie gesagt nach dem Prozess, dann aber mit halbwegs einfachen Mitteln, möglich. Ausnahmen bilden hier ggf. die Beurteilung des Maschinenverschleißzustands, oder die Analyse der chemischen Verunreinigungen des Kühlschmierstoffs. Untersuchungen hierzu sind u.U. etwas kniffliger.
Wie auch immer: Was den Prozessingenieur oder die -ingenieurin in diesem Zusammenhang häufig wurmt, ist der nun mehrfach erwähnte Umstand, dass er Aussagen zum Prozessgeschehen erst nach dem Prozess treffen kann … also dann, wenn quasi alles zu spät ist. So „drängt“ es ihn, früher, am besten bereits während des Prozesses, an geeignete Informationen zur tiefergehenden Beurteilung des Prozesses zu kommen. Dies bedeutet ein Blick in die Black-Box mit dem in ihr stattfindenden Zerspanprozess. Dort sind die Vorgänge aber eher unübersichtlich: Späne fliegen, es ist laut, Kühlschmierstoff spritzt und verdeckt die Sicht, oder das Werkzeug ist sogar durch das Werkstück gänzlich verdeckt. Dennoch hat er Möglichkeiten, in diesem Durcheinander an sehr nützliche Informationen zu kommen.
Was der Prozessingenieur während des Prozesses messen bzw. bestimmen kann sind die sog. Prozesskenngrößen. Beispiele für Prozesskenngrößen sind die auftretenden Zerspankräfte und erforderlichen Spindelleistungen, die Werkstück- und Werkzeugtemperaturen, aber auch die Zerspangeräusche und Schwingungen der Maschinenkomponenten. All diese Größen lassen sich nur während des Prozesses untersuchen. Klar, leuchtet ein, ohne Prozess keine Kräfte oder Zerspangeräusche.
Für die Bestimmung dieser Prozesskenngrößen benötigt man häufig recht komplizierte und teure Messsysteme, da sie in der Lage sein müssen, teils hochdynamische Vorgänge bis in den MHz-Bereich hinein zu detektieren. So kann ein State-of-the-Art Kraftmesssystem oder ein System zur Detektion sog. Körperschallsignale problemlos mehrere Zehntausend Euro kosten. Eine halbwegs erfahrene Prozesstechnologin kann aber aus diesen Prozesskenngrößen wichtige Schlussfolgerungen über den Zustand des Zerspanprozesses ziehen - ob also „alles in Ordnung“ ist, oder ob sich schon Probleme andeuten, die bald einen Eingriff erfordern. Sind die Kräfte oder Spindelleistungen zu groß, so kann sie z.B. über einen Vergleich mit einem Referenzprozess Rückschlüsse auf den Verschleißzustand des Werkzeugs ziehen und frühzeitig reagieren. Bei dem ersten Auftreten von Schwingungen befürchtet sie zu Recht die Verschlechterung der Werkstückoberflächenqualität, so dass sie z.B. mit einer Anpassung der Prozessparameter oder der Werkzeuggeometrie reagiert, bevor das Teil Ausschuss wird. Aus den Zerspangeräuschen kann sie unter Einsatz spezieller Software Rückschlüsse auf die Formung der Späne oder sogar Änderungen im Werkstoffgefüge des Bauteils ziehen, um auf dieser Basis z.B. die Schnittgeschwindigkeit oder die Kühlschmierstoffzufuhr anzupassen, oder den Prozess auch einfach laufen zu lassen.
Wie wir sehen, steht einem Prozesstechnologen oder einer Prozesstechnologin also quasi ein Bauchladen an Möglichkeiten zur Verfügung, den Zerspanprozess mit Hilfe der Prozesskenngrößen und Prozessausgangsgrößen zu bewerten und je nach Aufgabe einzugreifen. Sprich: Sie passen die Prozesseingangsgrößen an.
Mit der Festlegung der zahlreichen Prozesseingangsgrößen legt man die Rahmenbedingungen für den Zerspanprozess fest, womit letztlich eine große Verantwortung für die Wirtschaftlichkeit des Prozesses getragen wird. Falsche Entscheidungen werden Zeit und Geld kosten. Ein Beispiel: Ein Schneidstoff, der gut bei der Bearbeitung gehärteter Stähle funktioniert, kann bei der Bearbeitung von weichem Aluminium versagen. Und umgekehrt. Ein weiteres Beispiel: Bei Wahl einer niedrigen Schnittgeschwindigkeit können die Werkzeugkosten gering sein, da die Werkzeugbelastung und somit der Verschleiß wahrscheinlich gering sein werden. Jedoch nimmt die Prozessdauer bei niedrigen Schnittgeschwindigkeiten zu, da pro Zeiteinheit weniger Material abgetrennt wird. Eine Maschine kostet aber Geld, je nach Maschinentyp teils weit über 100 € pro Stunde. Die Maschinenkosten steigen somit an. Weiterhin muss der Prozesstechnologe in Abhängigkeit des zu bearbeitenden Werkstückmaterials nicht nur das richtige Werkzeug, sondern in Abhängigkeit dieser Kombination auch einen passenden Kühlschmierstoff sowie die passende Maschine auswählen. Letztlich haben all diese Entscheidungen Auswirkungen auf den Prozess.
Durch die Betrachtungen der letzten Minuten haben wir nun zusammen ein erstes Gespür dafür entwickeln können, dass die Black-Box „Zerspanprozess“ letztlich ein komplexes Geflecht an Abhängigkeiten zwischen den Prozesseingangs- und -ausgangsgrößen beinhaltet. Zur Bewertung eines Zerspanprozesses mit geometrisch bestimmter Schneide (wie dem Drehen, Fräsen, Bohren) haben sich dabei, in weltweiter Übereinstimmung, vier Hauptkriterien herauskristallisiert:

  • Die Oberflächenausbildung des Werkstückes
  • Die Spanformung
  • Der Verschleiß des Werkzeuges
  • Die Belastungen der Werkzeugschneide

Diese vier Kriterien werden allgemeinhin als „Zerspanbarkeitskriterien“ bezeichnet. Mit ihrer Hilfe kann ein Prozesstechnologe den Gesundheitszustand seines Prozesses bewerten- ähnlich wie eine Ärztin den Gesundheitszustand ihrer Patienten beurteilt. Hierfür benötigt eine Ärztin nämlich, wie ein Ingenieur, qualitative und quantitative Informationen über die seine Patienten betreffenden Prozesse. So könnte die Oberflächenausprägung des Werkstücks z.B. der Gesichtsfarbe, die Spanform z.B. dem Blutbild, der Werkzeugverschleiß z.B. der Knochendichte, oder die Belastungen der Werkzeugschneide z.B. dem Puls oder dem Blutdruck des Patienten entsprechen. Sehen Sie mir diese platten Vergleiche im Sinne einer Anschaulichkeit nach. Je nach Blutbild und Blutdruck kann dir Ärztin dann Ratschläge geben, wie die Prozesseingangsgrößen des Patienten, wie z.B. Ernährung, Medikation oder Bewegungsverhalten, angepasst werden sollten.
Aufgrund ihrer Bedeutung verdienen letztlich alle 4 Zerspanbarkeitskriterien eine eigene Podcastfolge. Mit den Aspekten Werkzeugmaterial, Prozessparameter und Kühlschmierung sind weitere wichtige Themenfelder genannt worden, denen wir ebenfalls eigene Folgen widmen möchten. Hierauf freue ich mich schon sehr und auch darauf, Sie hier in diesem Rahmen wieder begrüßen zu dürfen. Bleiben Sie gesund und guter Dinge, und weiterhin viel Spaß in der Fertigungstechnik.

geschrieben von Prof. Dietmar Pähler
eingesprochen von Prof. Dietmar Pähler