036-Büroklammer

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Transkript

Es ist Zeit für ein wenig Fertigungstechnik.
In meinem Labor für spanlose Formgebung verwende ich in den verschiedenen Veranstaltungen gerne Beispiele zum Anfassen. Mein derzeitiges Lieblingsstück? Die Büroklammer.
Ich möchte diese Episode gerne nutzen, um mal ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu überlegen, wie viel Fertigungstechnik eigentlich in so einem kleinen, unscheinbaren Teil steckt.
Die ersten Themen, die ich anhand der Büroklammer verdeutliche, stammen aus dem Umfeld des Spannungs-Dehnungs-Diagramms. Dazu hatte David ja schon eine Folge veröffentlicht. Hört da gerne noch einmal rein.
Ich halte eine Büroklammer in einer Hand so vor mich, dass das äußere freie Ende nach oben zeigt. Wenn ich es jetzt mit der anderen Hand leicht nach außen ziehe, dann erzeuge ich gemäß den Grundlagen zunächst eine elastische Formänderung. Lasse ich das freie Ende wieder los, sollte es in die Ausgangsform zurückfedern. Wir haben uns im Spannungs-Dehnungs-Diagramm also nur im Bereich der Hooke’schen Geraden bewegt. Wiederhole ich den Versuch und ziehe das Ende jedes Mal etwas weiter zur Seite, dann kommt irgendwann der Punkt, an dem es nicht mehr bis zum Ausgangszustand zurückfedert, sondern etwas absteht. Nun sind wir in den elastisch-plastischen Bereich gewechselt. Aber: Es federt immer noch zurück. Nur weil die plastische Formänderung beginnt, hört die elastische Formänderung nicht auf. Auf der Hooke’schen Geraden ist elastische Formänderung, nach der Streckgrenze elastische UND plastische.
Falls ihr gerade eine Büroklammer in der Hand habt, könnt ihr das gerne mal ausprobieren.

Jetzt versucht doch bitte einmal, eine der 90°-Ecken der Büroklammer geradezubiegen und schaut dabei ganz genau hin. Und? Klappt das gut?

Eigentlich bleibt bei diesem Versuch ein kleiner Bogen übrig, wo vorher schon der Knick war. Der Werkstoff links und rechts von der Ecke möchte sich viel lieber verbiegen, als der IN der Ecke. Das liegt an einem Effekt, der sich Kaltverfestigung nennt. Die Grundlage dafür findet man allerding besser in der Fließkurve als im Spannungs-Dehnungs-Diagramm, denn das Spannungs-Dehnungs-Diagramm ist ja ab der Streckgrenze, sagen wir mal, etwas realitätsfremd.
Über Fließkurve und Kaltverfestigung machen wir bestimmt noch einmal eigene Episoden. Hier nur so viel: Je weiter ich ein Werkstück umforme, desto fester wird der Werkstoff dabei. Irgendwann wird er dabei so spröde, dass es zum Bruch kommt. Dann ist das zulässige Formänderungsvermögen überschritten. Diesen Effekt kann man demonstrieren, wenn man mit einer Zange eine Stelle der Büroklammer immer wieder hin und zurück biegt, bis der Draht abbricht.
Soweit zu den umformtechnischen Effekten, die ich gerne mit Büroklammern demonstriere.

Nun möchte ich mir noch einen Prozess überlegen, mit dem man Büroklammern herstellen kann. Das wird sicherlich nicht der einzige Weg sein, wie es gemacht wird, da in der Produktionstechnik immer viele Wege zum Ziel führen.

Ich beginne in der Urformtechnik, da die Erzgewinnung und die Erzeugung der Schmelze strenggenommen nicht in die Fertigungstechnik gehören.

Ich wähle als ersten Prozess das Stranggießen. Von der Schwerkraft angetrieben fließt der flüssige Stahl durch eine gekühlte Kokille mit in unserem Fall rundem Querschnitt nach unten. So entsteht eine quasi unendlich lange, zylindrische Stange, die weiter abgekühlt und in großem Bogen in die Horizontale umgelenkt wird. Dort wird sie dann in passende Stücke zerteilt. Das wären dann Verfahren aus der Hauptgruppe Trennen, z. B. das Sägen mit einer Bandsäge, das Trennschleifen oder Wasserstrahlschneiden.
Der Durchmesser unserer Stange ist aber noch viel zu groß, vielleicht im Bereich von Zentimetern, während eine handelsübliche, kleine Büroklammer eher einen Drahtdurchmesser von etwa einem Millimeter oder kleiner hat. Zunächst könnte ich den Durchmesser durch Walzverfahren weiter verringern, dabei wird das Material gleichzeitig länger, da das Volumen beim Umformen konstant bleibt. Nun kommt das Durchziehen zum Einsatz. Zunächst wird mit einem automatischen Hammer das vordere Ende der Stange verjüngt und dann durch einen so genannten Ziehstein gesteckt. Der Ziehstein auch Ziehhol genannt ist das Werkzeug und besitzt ein sich verjüngendes Durchgangsloch. So einen Vorgang hatte ich auch schon bei der Herstellung von Rohren vorgestellt.
Zwischen den Ziehdurchgängen kann es nötig sein, den Stahldraht einer Wärmebehandlung (Stoffeigenschaft ändern) zu unterziehen, um die Kaltverfestigung wieder weitestgehend zurückzusetzen.
Wenn der Draht nun auf dem Zieldurchmesser angekommen ist, wird er häufig noch verkupfert, verzinkt oder vermessingt, damit der Draht nicht rostet und so die Papiere färbt. Einige Büroklammern sind auch mit Kunststoff ummantelt. Auf jeden Fall wurden hier verfahren aus der Gruppe „Beschichten“ angewendet, z. B. das galvanische Beschichten.
Der nun fertige Draht wird meist auf Rollen aufgewickelt und ausgeliefert.

Bei bekannten Videoplattformen kann man verschiedene Methoden finden, wie nun aus dem Draht von der Rolle die Büroklammer wird. Aber auf der Verfahrensseite sind sie sich alle einig.
Nach dem Abwickeln wird der Draht zwischen mehreren Rollen leicht hin und her gebogen, um ihn geradezurichten. Anschließend wird er an den richtigen Stellen gebogen und zuletzt abgeschert (Scherschneiden).

Ich finde es beeindruckend, dass man an der Büroklammer sehr anschaulich das Spannungs-Dehnungs-Diagramm erklären kann und dass bei Ihrer Herstellung Verfahren aus allen Hauptgruppen außer der Fügetechnik zum Einsatz kommen: Gießen, Sägen, Walzen, Durchziehen, Richten, Biegen, Scherschneiden.

Ach, und übrigens: In Norwegen wurden im zweiten Weltkrieg Büroklammern als Zeichen des Widerstands am Revers getragen; zuerst offen, später verdeckt. Daher wurde dort auch eine riesige Büroklammer als Denkmal aufgestellt.

 

geschrieben von Benjamin Remmers
eingesprochen von Benjamin Remmers