061-Biegen

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Transkript

Es ist Zeit für Fertigungstechnik. Und da mir der Jahreswechsel noch in den Gräten steckt, mache ich eine eher grundlegende Episode. Das Biegen.

An der einen oder anderen Stelle sind wir schon über das Thema Biegen gestolpert: bei der Büroklammer, bei der Episode über die Umformverfahren natürlich, bei den Rohren vielleicht und bei den Umformmaschinen.

Ich bin gerade faul und schaue zuerst in die DIN 8586 (Zitat): „Umformen eines festen Körpers, wobei der plastische Zustand im Wesentlichen durch eine Biegebeanspruchung herbeigeführt wird.“ – Nicht sehr hilfreich.

Ich schaue mal in eines der Vorlesungsskripte (Zitat): „Biegen ist ein Umformverfahren, bei dem in ein Blech, Rohr oder Profil eine eindimensionale Krümmung eingebracht wird. Dabei wird der Werkstoff mit einem Moment belastet.“ Aha, schon besser. Wir verändern also die Krümmung.

Dann baue ich mal ein kleines geistiges Bild: Stellt Euch einen Biegebalken mit rechteckigem Querschnitt vor, der auf der linken Seite fest eingespannt ist (Fühle ich gerade Schwingungen aus der Mechanik-Vorlesung?). Belaste ich das freie Ende nun mit einer Kraft, senkt es sich etwas ab und ich bekomme im Balken und im Auflager ein Biegemoment. Wenn ich mir noch eine horizontale Mittellinie in den Balken denke, kann man sich vorstellen, dass bei dieser Biegung unterhalb der Mitte eine Druckspannung und oberhalb der Mittellinie eine Zugspannung herrscht. Die oberen Fasern werden gedehnt, die unteren gestaucht. Dies gilt unabhängig davon, ob ich mich im elastischen oder plastischen Bereich befinde. Verbiegt mal einen weichen Schwamm, dann merkt man das.

Jetzt könntet ihr einwenden, dass im Stab ja Zug- und Druckspannungen herrschen und das Biegen deshalb in die Gruppe der Zug-Druck-Umformung einsortiert werden müsste. Im Prinzip ja, aber man hat sich entschieden, dem Biegen eine eigene Gruppe zu geben. Der große Unterschied liegt darin, dass die Zug- und Druckspannungen zum einen parallel zueinander liegen und zum anderen an unterschiedlichen Orten im Bauteil: oben Dehnung, unten Stauchung.

Schauen wir uns zum Vergleich ein kleines Volumenelement aus dem Flansch eines Tiefziehprozesses an: Dort haben wir in diesem einen Miniaturwürfel sowohl die tangentialen Druckspannungen als auch die radialen Zugspannungen vorliegen, die annähernd senkrecht aufeinander stehen. Beim Drahtziehen haben wir die Zugspannung in Ziehrichtung und die durch das Ziehhol aufgebrachten Druckspannungen quer dazu.

Zudem haben wir noch den Biegespannungsverlauf: An der obersten Faser ist die Zugspannung am größten, nimmt zur Mitte hin bis null ab und wird dann bis zur unteren Faser zur maximalen Druckspannung.

Deshalb: Kein Zug-Druck-Umformen! Biegespannung, Biegebeanspruchung und Biegeumformung. Punkt.

Zurück zur DIN 8586: Hier werden die Biegeumformverfahren in zwei Untergruppen aufgeteilt: die mit geradliniger und die mit drehender Werkzeugbewegung.

Bei denen mit geradliniger Werkzeugbewegung kommen zunächst die Verfahren des freien Biegens: Beim freien Biegen hat das Werkzeug NICHT die Form des fertigen Werkstücks. Die eine Variante hatten wir eben schon. Wenn ich beim eingespannten Balken die Last so weit erhöhe, dass die plastische Formänderung einsetzt, dann bekomme ich eine Biegung. Eine zweite Variante wäre, wenn ich links und rechts des Balkens Auflager hätte und die Last in der Mitte dazwischen aufbringe. Eine dritte Variante ist das querkraftfreie Biegen, bei dem ich allerdings im Widerspruch zur Einordnung laut Norm die lineare Werkzeugbewegung vermisse: Ich könnte ja an beiden Enden des Biegebalkens gegensinnige Momente einleiten und auch daraus könnte eine Formänderung resultieren. Nehmt euch als Beispiel einen Stab in beide Fäuste und dreht die Hände. So in etwa.

Benutze ich das freie Biegen, um im Werkstück die Krümmung geringfügig auf einen bestimmten Wert zu korrigieren (häufig auf „gerade“), so nennt sich das Verfahren Richten, ergo hier Biegerichten.

Bringe ich bei jedem Hub nur eine kleine Formänderung ein, schiebe das Werkstück ein wenig weiter und wiederhole das viele Male, so dass z. B. ein großer Ring oder Zylinder entsteht, so nennt man das Runden; hier also freies Runden.

Die nächsten Verfahren bilden das Gesenkbiegen ab. Hier bildet das geschlossene Werkzeug die Werkstückform (sofern man die Rückfederung ignoriert und das tun wir zunächst). Das Gesenk kann hier je nach gewünschtem Ergebnis ein V oder ein U etwas anderes oder bei einem freien Ende auch nur angewinkelt sein. Auch mit einem Gesenk kann ich Runden. Gesenksicken und -bördeln, Gleitziehbiegen sowie Innenhochdruckbiegen lasse ich heute links liegen.

Von den drei weiteren Verfahren beim Biegen mit geradliniger Werkzeugbewegung möchte ich nur das Rollbiegen mit dem Spezialfall des Windens noch betrachten. Werkstücke bei denen das Rollbiegen benutzt wurde, könnte man noch von metallenen Creme- und Keksdosen kennen. Damit man sich an der freien Kante nicht verletzt, wird sie aufgerollt. Dies passiert, indem die freie Blechkante in ein Formelement mit 180° Radius hineingeschoben wird und sich dort aufrollt. So funktioniert es auch bei den ganz einfachen Scharnieren.

Wenn man einen Draht in ein solches Formelement hineinführt, entsteht eine Öse. Schiebt man dann weiter, entsteht eine Wendel, z. B. eine Zug- oder Druckfeder. Das nennt sich Winden.

Hat noch irgendjemand Lust auf die Verfahren mit drehender Werkzeugbewegung? Ich gerade nicht. Das soll nicht heißen, dass die Verfahren nicht wichtig oder nicht interessant wären. Aber ihr sollt mir bei der langen Auflistung auch nicht einschlafen. Wenn ihr etwas darüber wissen wollt, schreibt mir eine Mail an info (at) fertigungstechnisch (dot) hamburg

Dafür kümmere ich mich noch um einen wichtigen Effekt beim Biegen: Die Rückfederung

Wie David in der Episode über das Spannungs-Dehnungs-Diagramm schon berichtet hat, kommt vor der plastischen Formänderung immer die elastische Formänderung. Wird die Umformkraft zurückgenommen, wird die gespeicherte Energie wieder freigesetzt. Das bedeutet dann leider, dass ich für einen 90°-Biegewinkel nicht 90° einstellen muss, sondern mehr. Bei der Großserie muss ich auch den Winkel im Biegegesenk entsprechend herstellen. Aber wieviel mehr muss ich denn nun einstellen?

Das hängt von mehreren Faktoren ab:

  • Werkstückwerkstoff, speziell Zugfestigkeit, Fließ- und Dehngrenze sowie Elastizitätsmodul
  • Verfahren (Gesenk oder frei)
  • Blechdicke
  • Biegeradius
  • Walzrichtung und
  • Vorverfestigung

Für die Berechnung wäre der Rückfederungsfaktor k zu nennen. Er wird aus dem Verhältnis des Biegewinkels α2 nach Entspannung zum Biegewinkel α1 unter Last gebildet.

Da α1 immer größer ist als α2, ist der Rückfederungsfaktor immer kleiner als 1, ein kleineres k bedeutet also größere Rückfederung.

Wenn ich also wissen möchte, welchen Winkel ich an der Maschine oder am Werkzeug einstellen muss, stelle ich die Formel nach α1 um und bekomme

Für die Rückfederungsfaktoren gibt es Tabellen und es steckt auch viel Erfahrung in der Einstellung des richtigen Biegewinkels. Bei CNC-gesteuerten Biegemaschinen kann ggf. eine Rückfederungskompensation implementiert sein. Bei komplexen Bauteilen kann eine hochwertige Simulation helfen.

Übliche Werte für k bei Stählen liegen etwa zwischen 0,9 und 0,99.

So viel für heute zum Biegen.

Ach nein, eines noch: Die langen Blechbahnen für die automatisierte Fertigung von Blechteilen werden aus praktischen Gründen aufgerollt gelagert. Das ist möglich, weil bei sehr großen Biegeradien die Fließgrenze nicht überschritten wird, man bleibt im elastischen Bereich.

geschrieben von Benjamin Remmers
eingesprochen von Benjamin Remmers