067-weiter Tiefziehen

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Transkript

Es ist Zeit für ein wenig Fertigungstechnik.

Ich habe in einer frühen Folge mal etwas zum Tiefziehen im Folgezug erzählt. Was ich unterschlagen hatte, war, warum das überhaupt funktioniert. Kurze Wiederholung: Beim Tiefziehen haben wir 3 Bereiche im noch nicht fertigen Napf: Der Boden, der war vorher flach und ist es hinterher immer noch, da passiert im Prinzip nichts; Die Zarge, die ist schon fertig und überträgt „nur noch“ die Stempelkraft in die Umformzone; Den Flansch, hier passiert die Action. Im Flansch haben wir die radialen Zugspannungen, die tangentialen Druckspannungen und die Druckspannung des Niederhalters gegen die Faltenbildung. Hier fließt der Werkstoff, hier wird die Kraft gebraucht. Was ich diesmal nicht unterschlagen möchte, ist, dass am Ziehringradius der Werkstoff zusätzlich einmal gebogen und wieder geradegebogen wird.

Je größer der Flanschbereich ist, umso mehr Umformkraft wird benötigt.

Deswegen gibt es das Grenztiefziehverhältnis und die Bodenreißkraft, wenn die benötigte Kraft aus der Umformzone größer wird, als in der Zarge übertragen werden kann.

Ich möchte jetzt also mal einen Napf im Format einer modernen Getränkedose herstellen. Ja, ich weiß, die sind vermutlich mittels Abstreckziehen hergestellt. Ich sagte ja auch nur „im Format von“. Also Außendurchmesser 58mm, Höhe 146mm, Dicke 0,5mm, Werkstoff Al99,5. Aus dem Außendurchmesser und der Blechdicke ergibt sich der Stempeldurchmesser zu 57mm. Die Formeln könnt ihr auf der Podcasthomepage im Skript nachschauen.

Aus der Formel für einen zylindrischen Napf ohne nennenswerten Bodenradius

 

ergibt sich der Rondendurchmesser zu 192,1mm. Wer nachrechnet, merkt, dass ich hier nicht kaufmännisch gerundet habe. Wenn ich an dieser Stelle abrunden würde, hätte ich ja zu wenig Werkstoff.

Aus der Formel für das Tiefziehverhältnis

 

ergibt sich 3,37.

Das Tabellenbuch liefert mir für den Anschlagzug ein Grenztiefziehverhältnis von 2,1. Das wird so also nichts. Wir benötigen mindestens einen Folgezug.

Die erste Frage ist jetzt also: Was ist der Innendurchmesser des größten Napfs, den wir gerade noch herstellen können. Dazu stelle ich die Formel für das Tiefziehverhältnis um und bekomme

 

Wir nehmen mal 95mm an, damit wir etwas von der Grenze weg kommen, dann ist das tatsächliche Tiefziehverhältnis 2,02.

Für einen Folgezug ohne Zwischenglühen nennt mir mein Tabellenbuch ein β1 von nur noch 1,6. Ob das reicht?

Aus der Fertigungstechnikvorlesung weiß man, dass das Gesamttiefziehverhältnis gleich dem Produkt der Einzeltiefziehverhältnisse ist. Ja, Produkt, nicht Summe.

Wir können die Formel also umstellen und bekommen

 

Das reicht nicht ganz. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Ich mache einen dreistufigen Prozess draus oder ich muss zwischenglühen. Mit Zwischenglühen ist ein Rekristallisationsglühen gemeint. Das würde natürlich einen zusätzlichen Prozess in einem Ofen mit hohem Energieaufwand, Warte- und Liegezeiten sowie Transportprozessen bedeuten. Da sind dann die Produktionsplaner:innen und die Expert:innen für Kostenrechnung gefragt, natürlich unter Beachtung der Nachhaltigkeit.

Ich mache einen dreistufigen Prozess draus. Damit wir von den Grenzen wegkommen, wähle ich als d1=100mm und d2=70mm. So ergeben sich die Ziehverhältnisse zu etwa 1,91, 1,43 und 1,23. Zur Probe:

Passt!

Jetzt habe ich nur immer noch nicht erklärt, warum das überhaupt funktioniert, obwohl die Blechmenge doch die gleiche bleibt.

Von oben erinnert Ihr Euch sicher noch, dass die Umformung im Spalt zwischen Niederhalter und Matrize passiert. Im ersten Zug formen wir nur so viel um, dass die Kraft gefahrlos übertragen werden kann. Jetzt haben wir also einen Napf mit 100mm Innendurchmesser, der in diesem Zustand fast 66mm hoch ist.

Das zweite Werkzeug für den Weiterzug hat dann einen Stempeldurchmesser von 70mm. Der Niederhalter ist dann ein Hohlzylinder, dessen Außendurchmesser gerade eben in den Napf passt (also die 100mm). In dem Niederhalter kann sich der Stempel bewegen. Jetzt haben wir also VIER Bereiche beim Tiefziehen. Den Boden, da passiert wieder nichts, die Zarge, da passiert wieder nichts mehr, den Flansch, da passiert die Umformung und die alte Napfwand, die noch nichts tut (außer vielleicht ein wenig Reibung am Niederhalter). Wenn wir das Tiefziehen ein wenig fortsetzen, haben wir mehr neue Zarge erzeugt, die alte Wand ist etwas weniger geworden und wir haben die gleiche Menge Werkstoff unter dem Niederhalter. Die Kraft nimmt also im Prinzip nicht zu; vielleicht ein Bisschen durch mehr Vorverfestigung.

Nach dem zweiten Zug haben wir dann einen Napf mit 70mm Innendurchmesser und etwa (natürlich idealisiert) 112mm Höhe.

Beim dritten Zug das gleiche Spiel.

Kurzzusammenfassung:

  • Folgezüge funktionieren, weil nicht beim gesamten Material außerhalb des Stempels der Durchmesser verringert wird, sondern immer nur von einem Teilbereich unter dem Niederhalterring zur Zeit.
  • Das Produkt der einzelnen Ziehverhältnisse ergibt das Gesamtziehverhältnis.
  • Zur Berechnung der Zugabstufung sollte man die Formeln für das Tiefziehverhältnis und die Zuschnittsberechnung umstellen können.

Und keine Sorge: In einer Klausuraufgabe müsst ihr vermutlich nicht frei den Prozess auslegen. Ich vermute eher, dass aus z. B. einem dreistufigen Prozess zwei Ziehverhältnisse gegeben sind und ihr die Plausibilitätsprüfung machen und das dritte Ziehverhältnis bestimmen sollt. Oder so. Je mehr ich mich hier mit dem Tiefziehen beschäftige, umso mehr mag ich das Verfahren.

Ach und noch etwas: Das was früher als Rapid Prototyping bezeichnet wurde, wird heute richtigerweise besser additive Fertigung oder Additive Manufacturing genannt.

 

geschrieben von Benjamin Remmers
eingesprochen von Benjamin Remmers