049-FEM

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Transkript

Hallo - es ist wieder Zeit für etwas Fertigungstechnik

Ich bin Jens Telgkamp, Professor am IPT der HAW Hamburg. Heute geht es um das Thema FEM in der Fertigungstechnik.

Die Methode der Finiten Elemente – was ist das überhaupt? Die Antwort hängt davon ab, wen man fragt.

  • Wenn ich in der Fußgängerzone frage, kommt sowas wie: „irgendsowas am Computer“.
  • Wenn ich eine praktisch orientierte Maschinenbauingenieurin frage, kommt so etwas wie: „Eine Methode, die ich benutze, wenn das Berechnungsproblem zu kompliziert ist, um es analytisch, also mit Stift, Papier und Exceltabelle zu lösen“.
  • Wenn ich eine mathematisch-theoretisch orientierte Kollegin frage, dann kommt als Antwort: „Eine Methode, um Probleme zu lösen, die sich durch Differentialgleichungssysteme mit Randbedingungen beschreiben lassen. Dabei wird in den durch Partition erzeugten Teilgebieten das Prinzip der virtuellen Verrückungen benutzt, um die Differentialgleichungssysteme in algebraische Gleichungssysteme umzuwandeln, welche linear in den Freiwerten, meist den Knotenverschiebungen, sind. Falls das Problem geometrisch oder physikalisch nichtlinear ist, muss ein iteratives Vorgehen mit bereichsweise wirksamen Linearisierungen gewählt werden“

Wow – die scheint meine Mastervorlesung über nichtlineare Finite Elemente gehört zu haben, nicht schlecht! Aber wer von den dreien hat denn nun Recht? Alle drei sicherlich.

Erstmal werfe ich einen Blick in die Geschichte der Finiten Elemente. Die Menschheit hat mehrere industrielle Revolutionen hinter sich. Und mit ihnen stieg die Bedeutung der Ingenieurswissenschaften. Die Menschen haben mehr und mehr auf industrielle Massenproduktion gesetzt. Die Erzeugnisse mussten nicht nur hergestellt, sondern vorher erstmal entwickelt werden. Dazu gehört – neben der Fähigkeit zu konstruieren – eben auch die Fähigkeit, Berechnungen durchzuführen. Speziell: Festigkeitsberechnungen und -nachweise rechnerisch zu führen. Allerdings anfangs noch nicht mit Finiten Elementen, die waren vor etwa 100 Jahren noch nicht erfunden, als bei Ford die Fließbandproduktion begann. Stattdessen startete die Menschheit erstmal in die Ära derjenigen, die virtuos mit Differentialgleichungen rechnen und abschätzende Berechnungen mit Tabellenbüchern etc. durchführen konnten. In den 1960er Jahren war dann erstmals die Rede von Finite Element Berechnungen. Die Methode hängt ja auch direkt an der Verfügbarkeit von Computern, anfangs noch mit Lochkarten, heute mit modernen Parallelprozessoren und Solvern. Und es war schnell klar, dass man mit der FEM Methode auch Probleme lösen kann, die sich einer einfachen analytischen Berechnung entziehen.

Wie läuft eine Finite Elemente Berechnung bzw. Simulation ab? Wo kommen all die bunten Bilder her?
Im Wesentlichen läuft die FEM-Berechnung in drei Schritten ab:

  1. Modellbildung, auch Preprocessing genannt: Berechnungsingenieur*innen bauen das Modell auf, indem sie die tatsächliche Geometrie ihrer zu berechnenden Struktur nachbilden und in Finite Elemente unterteilen, also vernetzen. Zur Modellbildung gehört ebenfalls die Annahme von Randbedingungen, z.B. an fest eingespannten Bereichen, und natürlich die Annahme der Belastung. Hier kann man schon jede Menge falsch machen: Wenn Berechnungsingenieur*innen nicht verstehen, wie die Methode funktioniert, werden sie auch nicht zu einem guten Modell kommen können.
  2. Berechnung im Solver: hier findet der Algorithmus die Lösung des Modells. Klingt einfach, aber auch hier gilt: wenn ich nicht weiß, wie ich den Solver einstellen und benutzen muss, dann kommt irgendwas heraus, aber nicht unbedingt eine Vertrauenswürdige Lösung.
  3. Postprocessing: Zunächst bezieht sich die Lösung nur auf die Freiwerte des Modells, also z.B. die Verschiebungen der Knoten. Alle weiteren Größen, z.B. mechanische Spannungen, werden im Postprocessing berechnet und dargestellt. Und da kommen dann schließlich all die bunten Bilder her. Die sind übrigens immer gleich bunt, egal ob die zugrundeliegende Berechnung etwas taugt oder nicht.

Und was ist jetzt die Bedeutung der FEM für die Fertigungstechnik?

Die ersten Benutzer*innen waren sicherlich keine Fertigungstechniker, sondern Berechnungsingenieur*innen und Statiker*innen. Die klassische Aufgabe bestand darin, statische Berechnungen und Festigkeitsnachweise auszuführen. Das ist sicherlich auch die einfachste Aufgabe, verglichen mit dem, was noch kommt.

Warum sind statische Festigkeitsberechnungen die einfachste Aufgabe?
Hauptsächlich aus zwei Gründen:

  1. Meist reicht es, das Modell geometrisch linear aufzubauen. Das bedeutet: ich muss die Veränderung der Geometrie während der Belastung nicht berücksichtigen. Wenn ich z.B. ein massives Maschinenbauteil hinsichtlich seiner Festigkeit berechne, darf ich meist davon ausgehen, dass das Bauteil kaum sichtbare Verformungen aufweist, bis es schließlich versagt. Das erleichtert die Modellbildung und Berechnung erheblich, dazu später mehr.
  2. Neben der geometrischen Nichtlinearität gibt es auch die physikalische Nichtlinearität. Den Berechnungsingenieur*innen reicht es beim Festigkeitsnachweis meistens, auch auf diese Nichtlinearität in ihren Modellen zu verzichten. Der Grund: Wenn ich als Statiker die Festigkeit meines Bauteils berechne, bewege ich mich meist im linear-elastischen Bereich. Es ist logischerweise auch nicht gewünscht, dass mein Bauteil anfängt, sich im täglichen Betrieb plastisch zu verformen, denn dann hätte es ja dauerhaft eine andere Form. Also lieber linear-elastisch bleiben. Und auch diese Annahme erleichtert die Modellbildung und Berechnung.

Dann ist es in der Fertigungstechnik wohl komplizierter als bei Festigkeitsberechnungen und -nachweisen?
Meistens ja. Während unsere Statiker*in sich ja nur für das Bauteil im Betrieb interessiert und deshalb oft kleine Verformungen und elastisches Materialverhalten annehmen darf, wird ein*e Fertigungsingenieur*in sich für die Herstellung des Bauteils interessieren. In der Herstellung geht es viel gröber zu. Plastische Deformation gehören hier letztlich immer dazu, egal, ob ich an Zerspanen, Tiefziehen, Schmieden, Pulvermetallurgie, oder etwas anderes denke. Dazu kommt, dass sich die Werkstücke in der Herstellung ja meist erheblich verformen, ein großer Unterschied zu ihrem späteren Einsatz als Bauteile in Betrieb.

Hast du ein Beispiel?
Okay, wir nehmen einen Blechumformvorgang als Beispiel, z.B. das Tiefziehen eines Karosserieteils für ein Fahrzeug: Die plastische Deformation tritt hier natürlich auf, und ist auch gewollt. Plastisches Fließen ist ja letztlich gerade der Mechanismus, die es dem Blechzuschnitt erlaubt, zur Motorhaube oder zum Kotflügel zu werden. Damit ist mein Problem schonmal physikalisch nichtlinear. Geometrisch nichtlinear ist es sowieso, denn die Formänderung vom Zuschnitt bis zum Bauteil ist so gravierend, dass ich nicht die ganze Berechnung unter Annahme der ursprünglichen Geometrie durchführen kann. Wenn ich z.B. Gleichungen ansetze, die das mechanische Gleichgewicht in allen Raumrichtungen ausdrücken, so kann ich nicht mehr die Raumrichtungen des Ursprungszustands annehmen, sondern muss mathematisch beschreiben können, wie sich die Richtungen an jeder einzelnen Stelle des Blechzuschnitts auf dem Wege der Umformung ändern. Man stelle sich ein kleines Stück in einem Blechzuschnitt vor, das am Anfang auf dem Werkzeug aufliegt und dann während des Prozesses nach unten kippt und in die Länge gezogen wird…

Okay aber WARUM willst du denn eigentlich fertigungstechnische Vorgänge simulieren?

Dafür kann es verschiedene Gründe geben: vielleicht will ich die wirkenden Kräfte während eines Zerspanvorgangs abschätzen. Oder ich will am Computer simulieren, ob ein Werkstück sich in einer bestimmten Aufspannung zerspanen lässt, oder so biegeweich ist, dass es dem Werkzeug einfach ausweicht, oder es zu Schwingungen kommt.  Bei einem Sintervorgang will ich wahrscheinlich vorher wissen, mit welchem Verzug ich zu rechnen habe. Ob das Bauteil also gleichmäßig schrumpft, oder krumm und schief aus dem Sinterprozess kommt. Und zurück zum oben genannten Beispiel der Blechumformung: hier will ich ohne aufwändige Testreihen das Werkzeug gleich so designen, dass es die Blechrückfederung berücksichtigt. Ich kann die elastische Bauteilrückfederung nicht verhindern. Aber wenn ich sie auf der Basis einer FEM Simulation berechnet und berücksichtigt habe, dann bekommt das Werkzeug eine angepasste Geometrie und das Bauteil erhält nach der Rückfederung genau dir Form, die ich haben will. Das ist dann schon eine wirklich anspruchsvolle Aufgabe, denn sie ist geometrisch und physikalisch nichtlinear und die Geometrien des Werkzeugs und des Bauteils nach dem Rückfedervorgang sind so kompliziert miteinander verknüpft, dass ich die Zusammenhänge mit einer einfachen Handrechnung niemals berücksichtigen könnte. Höchstens näherungsweise und mit ganz viel Erfahrung.

Fazit dieser Folge: bunte Bilder erzeugen kann ich mit einem FE Programm immer leicht. Die Ergebnisse werden wahrscheinlich aber nur fertigungstechnisch brauchbar sein, wenn ich mich gut mit der Modellbildung und den Hintergründen der Berechnung auskenne.

So rein ästhetisch finde ich die bunten Bilder auch nicht schlecht. Sag mal: CFD steht für „Colours for Designers“, oder? Eigentlich steht CFD eher für „Computational Fluid Dynamics“. Diese Methode ist für die Strömungsmechaniker das, was für uns Maschinenbauer die Finiten Elemente sind. Aber jetzt schweifen wir ab…

geschrieben von Prof. Jens Telgkamp
eingesprochen von Prof. Jens Telgkamp und Gästin