050-Schildprobleme

Die Episode

Folge herunterladen

Transkript

Es ist Zeit für ein wenig Fertigungstechnik.

Wobei ich eigentlich gar nicht wirklich Zeit für diese Episode habe. Ich muss nämlich hier im Lernort ein Schild mit unserem Motto „Einfach mal machen“ an die Wand schrauben. Naja, dann mache ich das halt parallel. In den oberen beiden Ecken der Kunststoffplatte befinden sich zwei Bohrungen. Zwei Schrauben, zwei Dübel und eine Bohrmaschine habe ich auch gefunden. Abstand der Bohrungen ist ungefähr zwei Handspannen. Denn man tau.

So, die beiden Löcher sind gebohrt, die Dübel stecken, Schaube ins linke Loch…
Hmpf! Ich kann durch das zweite Loch im Schild, das Loch in der Wand nicht sehen. Ich fürchte, ich habe den Abstand nicht richtig erwischt. Dabei sind die Bohrungen im Schild schon größer als die Schraubenbolzen. Mein Bohrungsabstand ist wohl außerhalb der Toleranz. Dazu später mehr.
Maße in der Fertigungs- bzw. Fertigungsmesstechnik sind geometrische Größen einzelner Elemente eines Werkstücks, speziell Längen und Winkel. Hierbei sind wir dann aber nicht wählerisch: Bohrungsdurchmesser, Bohrungsabstände, Dicke und Breite, Radien, Fasen an Werkstückkanten, Winkel am Konus oder am Lochkreis usw. usw.
Zweiter Versuch: Diesmal messe ich mit einem Gliedermaßstab (mein Vater nannte ihn noch Zollstock) zuerst den Bohrungsabstand, dann kennzeichne ich zwei Punkte an der Wand mit selbigem Maßstab mit demselben Abstand. Bis gleich.

So, das Schild hängt an der Wand, ich habe es mit beiden Schrauben montieren können. Aber Moment mal! Das hängt ganz schief. Das Maß stimmt, aber es gibt ein Problem mit der richtigen Lage.
Die Lage eines Elements in der Fertigungstechnik benötigt immer einen Bezug. So kann es z. B. einen Unterschied machen, ob mein Schild gerade im Verhältnis zu einem Lot, also zur Schwerkraft, oder parallel zum Boden des Raums hängt. Im besten Fall stimmt beides überein, aber nicht zwingend. Ich suche dann also meine Wasserwaage und starte einen dritten Versuch.

Die Löcher sind in der Wand, sie passen auch zum Lochabstand im Schild, aber leider war die zweite Bohrung nahe an der Kante eines Ziegelsteins. Immerhin ist dieses Haus einer der sogenannten Schumacherbauten hier in Hamburg. Da ist mir der Bohrer ein wenig weggelaufen. Das Loch ist jetzt oval, der Dübel hält nicht sondern dreht mit.
Maß passt, Lage passt, aber diesmal stört leider die Form die Funktionalität.
Gemurmelt: Hier muss doch irgendwo die Heißklebepistole…

So, das Schild hängt jetzt gerade an der Wand (beim Festschrauben ist mir dann aufgefallen, dass die Wand auch einen Formfehler hat, sie ist nicht eben) und es verdeckt sogar die ganzen Fehlversuche.
Manchmal wundere ich mich, dass dieses Haus überhaupt noch steht, so viele Löcher, wie hier in über einhundert Jahren gebohrt worden sein müssen.
Ich versuche einmal einzuordnen, was hier gerade passiert ist:
Sobald in der Technik zur Funktionsfähigkeit eines Systems mehr als ein Teil oder Element notwendig ist, müssen sie irgendwie zueinander passen. Die Funktion ist also die wichtigste Anforderung, die erfüllt sein muss. Die konstruierende Person legt also die jeweiligen Elemente wie Bohrungen, Nuten, Bolzen und so weiter fest, die dazu nötig sind. Da die Fertigung aber nicht „auf Null“ fertigen kann, soviel Aufwand und Geld ich auch immer hineinstecken könnte, werden Toleranzen festgelegt. Ich zitiere ausnahmsweise mal die Wikipedia: „Toleranz [ist] die Abweichung einer Größe vom Normzustand oder Normmaß, die die Funktion eines Systems gerade noch nicht gefährdet.“
Bezogen auf mein Schild würde das bedeuten,

  • dass die eine Schraube ganz links am Loch im Schild anliegt und die andere ganz rechts am anderen oder andersherum
  • dass die Bohrungen nur so wenig unterschiedlich hoch sind, dass man mit bloßem Auge nicht sieht, dass das Bild ein wenig schief hängt.
  • dass das Loch nur so wenig unrund ist, dass der Dübel noch vernünftig greift.

Für Toleranzen gilt dabei mal wieder der Grundsatz: So viel wie nötig, so wenig wie möglich.
Sind die Toleranzen zu groß, kann es passieren, dass es (gerade in der Serienfertigung) bei dem einen oder anderen Teil doch nicht passt, obwohl die Bauteile innerhalb der Toleranz gefertigt wurden. Sind sie zu klein, wird die Herstellung teurer, da genauere Verfahren und/oder Maschinen verwendet werden müssen; nebenbei steigen die Kosten und der Aufwand für die Qualitätssicherung (also z. B. die Messmittel) ebenso.
Auch zu diesem Thema wird es wohl noch die eine oder andere Episode geben. Bei gesteigertem Interesse meldet euch gerne unter info (at) fertigungstechnisch (dot) hamburg

Ach und ganz nebenbei: Das Toleranzparadoxon nach Popper hat so gar nichts mit Fertigungstechnik zu tun

geschrieben von Benjamin Remmers
eingesprochen von Benjamin Remmers