055-Kinematik der Zerspanung

Die Episode

Folge herunterladen

Transkript

Es ist Zeit für ein wenig Fertigungstechnik.
Eigentlich wollte ich heute wieder entspannt in der Zerspantechnik wildern und den Kollegen ein paar schöne Themen vor der Nase wegschnappen. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich für die Verfahren, die ich betrachten wollte, ein paar Begriffe verwenden muss, die wir noch nicht explizit erklärt haben. Ich hätte diese Episode tatsächlich VOR den Schnittgrößen machen sollen. Denn man tau.
Stellt euch doch bitte einmal ein Wirkpaar aus einem quaderförmigen, metallenen Werkstück und einem Werkzeug mit einer einzelnen Schneide vor. Ja genau, eure Säge hat Zahnausfall und es ist ein einzelner Schneidkeil übriggeblieben. Das Werkstück spannt ihr in einen Schraubstock ein. Dann bewegt ihr das Werkzeug geradlinig einmal durch die Werkstückoberfläche. Halt! In der Mitte stehenbleiben und nicht wackeln. Wie genau im Bereich des Schneidenpunkts der Span entsteht, hat Professor Pähler in einer früheren Episode schon beschrieben. Darauf kommt es mir gerade auch nicht an. Wenn ich jetzt von der Seite auf das Wirkpaar schaue, sehe ich also, wie der Schneidenpunkt eine lineare Schnittbewegung mit der Schnittgeschwindigkeit vc ausführt. Ich könnte an die Schneide also einen Bewegungsvektor z. B. mit der Länge vc dranmalen.
Ich muss hier einmal kurz abschweifen. Fragt Ihr Euch gerade, warum ich eine Säge mit einem Zahn benutze, anstelle eines Hobels? Das liegt an der fehlenden Absprache zwischen der Holz- und der Metallbearbeitung. Bei der Holzbearbeitung heißt das Werkzeug, mit einer Schneide, das ich mit Muskelkraft über mein stehendes Holzstück bewege, Hobel. Das Verfahren heißt dort auch Hobeln. Bei uns heißt das Verfahren, bei dem eine einzelne Schneide linear über ein stehendes Werkstück bewegt wird, Stoßen. Hobeln heißt es bei uns, wenn das einschneidige Werkzeug steht, und das Werkstück darunter oder darüber bewegt wird. Da diese Verfahren in der Allgemeinheit nicht sehr bekannt sind und in der Vorlesung üblicherweise nicht ausgiebig behandelt werden, wollte ich damit nicht gleich anfangen.
Ihr dürft mit der einzahnigen Säge gerne weitermachen. Wenn Ihr jetzt dieselbe Bewegung erneut durchführt, werdet ihr keinen Span mehr abnehmen, das Material ist schon weg. Es braucht zur Schnittbewegung auch noch eine Vorschubbewegung. Ihr dürft entscheiden, ob Ihr den nächsten Schnitt ein wenig tiefer ausführen wollt oder ein wenig seitwärts versetzt, so dass die Nut breiter wird. So eine schrittweise Vorschubbewegung nennt man auch Zustellung. Wie tief die Schneide im Eingriff ist, nennt man die Schnitttiefe. Benutze ich die gesamte Schneide, so ist die Schnittbreite gleich der Breite der Schneide. Wenn ich einen seitlichen Vorschub wähle, der kleiner als die Schneidenbreite ist, so ist auch die Schnittbreite kleiner.
Euch ist vielleicht aufgefallen, dass es für den eigentlichen Schnitt, also die Spanentstehung, total egal ist, ob ich die Schneide über das Werkstück oder das Werkstück unter der Schneide bewege. Hobeln und Stoßen sind schnittkinematisch gesehen identisch. Die Maschinenkonstruktion ist dafür aber sehr unterschiedlich. Ich denke, da kann mal jemand eine Podcastfolge über die Bauformen von Zerspanungsmaschinen machen. Nur so viel: Bei einem tonnenschweren Werkstück macht es durchaus einen Unterschied, ob meine Linearachsen es die ganze Zeit durch die Gegend schieben müssen, oder ob ich doch lieber die Werkzeugspindel darüber bewege.
Schauen wir mal rüber zum Drehen: Dort habe ich beim Längsdrehen eine Schnittbewegung mit konstanter Schnittgeschwindigkeit vc (die Umfangsgeschwindigkeit auf dem Schnittdurchmesser). Dazu kommt eine Vorschubbewegung mit konstanter Vorschubgeschwindigkeit vf . Die beiden Vektoren stehen orthogonal aufeinander (der Vorschubrichtungswinkel φ). Addiere ich die beiden Bewegungsvektoren, so ergibt sich die sogenannte Wirkbewegung, die um den Wirkrichtungswinkel η in der Arbeitsebene geneigt ist. Diese Arbeitsebene ist übrigens die Ebene, die durch die Vorschub- und Schnittbewegung aufgespannt wird. Die Wirkgeschwindigkeit wird mit ve gekennzeichnet. Wer sich das mal im Bild anschauen möchte, wird in der DIN 6580 fündig. ACHTUNG: Es ist wirklich die DIN 6580 und NICHT die 8580. Und ich packe einen Link in die Shownotes auf fertigungstechnisch.hamburg. Beim Plandrehen steht die Arbeitsebene anders, aber das Prinzip bleibt das gleiche.
Beim Fräsen wird es jetzt kompliziert. Hier wird die kreisförmige Schnittbewegung mit einer mehr oder weniger linearen Vorschubbewegung überlagert. Beim 5-Achs-Simultanfräsen gibt es sogar Vorschubbewegungen in mehreren Achsen, die sich zu einem momentanen Vorschubvektor überlagern. Aber selbst im einfachsten Fall (lineare Bewegung in einer Achse) ändert sich der Winkel zwischen Vorschub- und Schnittvektor ständig, während die Schneide im Eingriff ist und sich um die Spindelachse dreht. Beim Umfangsfräsen ändert sich ja auch die Spanungsdicke während der Spanentstehung ständig.
Ich fasse mal zusammen:
Die Schnittbewegung ist die Bewegung, die ein Schneidenpunkt relativ zum Werkstück ohne Vorschubbewegungen ausführt. Zu ihr gehört die Schnittgeschwindigkeit vc.
Die Vorschubbewegung ist eine stetige oder schrittweise, von der Schnittbewegung unabhängige Bewegung, die eine fortgesetzte Spanabnahme ermöglicht. Erfolgt die Vorschubbewegung stetig, so ist dies die Vorschubgeschwindigkeit vf.
Diese beiden Bewegungen spannen die Arbeitsebene auf.
Die Wirkbewegung mit der Wirkgeschwindigkeit ve ist die Überlagerung aus Schnittbewegung und Vorschubbewegungen.
Der Vorschub f ist dann die Länge des Wegs entlang der Vorschubrichtung während einer Umdrehung oder zwischen zwei Hüben.
Eigentlich wollte ich jetzt noch auf Gleich- und Gegenlauf bzw. die Position und Ausrichtung der Schneide beim Drehen eingehen. Aber ich fürchte, dass ich mir das lieber für eigene Episoden aufbewahre.
Ach und übrigens: Herzliche Grüße an alle, die gerade irgendwo anfangen zu studieren. Moin Erstis!

geschrieben von Benjamin Remmers
eingesprochen von Benjamin Remmers

Link zur Abbildung