056-Ingenieur:innengrundsatz

Die Episode

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Transkript

Es ist Zeit für ein wenig Fertigungstechnik… …zumindest auch.
Meine Berufung ist es, mit Studierenden im Lernort an der HAW Hamburg zu arbeiten. Mein Auftrag von der Hochschule und der Stadt Hamburg ist es, dazu beizutragen, dass aus jungen Menschen kompetente Ingenieurinnen und Ingenieure werden, die später im beruflichen Umfeld bestehen können. Dazu gehört bei uns im Studiengang Maschinenbau und Produktion, dass der Kontakt zu den Maschinen und Geräten schon im ersten Semester startet. In den Lehrveranstaltungen in den Werkstätten und Laborräumen arbeiten die Studierenden also mit mehr oder weniger Praxisbezug auf mal mehr und mal weniger wissenschaftlichem Niveau. Ein wichtiger „Softskill“, den wir dabei vermitteln wollen, ist „Nachfragen“.
Auf übermäßig viele Fragen der Studierenden antworte ich immer das gleiche: „So viel wie nötig, so wenig wie möglich.“
Für mich ist DAS die Grundlage des Ingenieursberufs. Diese 8 Wörter tauchen an so vielen Stellen in so vielen Teildisziplinen auf, dass sie eine eigene Episode verdient haben, denke ich.
Ein erstes Beispiel: Ich möchte einen Träger konstruieren, um daran eine Masse anzubringen. Dann sollte dieser Träger so stabil sein wie nötig, aber so dünn wie möglich. Mache ich den Querschnitt zu groß, brauche ich mehr von dem Werkstoff. Das erhöht das Eigengewicht and damit auch den Preis. Er braucht mehr Platz, die Verbindungselemente müssen vermutlich größer sein und so weiter…
Höre ich da eine Nachfrage? Ob ich gegen Sicherheitsfaktoren bin? Nein, natürlich nicht. Sicherheitsaufschläge gehören zum „Nötig“. Aber ihr vermutet es schon: Die Sicherheitsaufschläge müssen so groß sein wie nötig, aber so klein wie möglich. Für die Sicherheitsfaktoren gibt es Erfahrungswerte und Tabellen. Schaut dazu in die einschlägige Literatur. Nehmt bitte nicht einfach Faktor 2 aus dem Bauch heraus.
Schauen wir auf die Schnittstelle zwischen Konstruktion und Produktion: Die Zeichnung. Naja, ein vollständiges 3D-Modell geht auch.
Um ein Bauteil funktionsfähig produzieren zu können, braucht es Fertigungstoleranzen. Davon hat Hendrik ja gerade erst erzählt. Für die Toleranzen gilt analog: So klein wie nötig, so groß wie möglich. Mache ich die Toleranzen zu klein, wird die Fertigung teurer.
Bei der Fertigung geht es aus demselben Grund direkt weiter. Ich fertige mein Bauteil so genau wie nötig aber so ungenau wie möglich. Wenn ich eine Bohrung nur brauche, um eine Schraube hindurch zu stecken, dann reicht es, einen Spiralbohrer zu benutzen. Wenn ich die Bohrung aber benutze, um die Außenhaut eines Flugzeugs zu vernieten, dann muss aufgrund der dynamischen Lasten die Bohrung gerieben werden, auch wenn ich keinen Passsitz brauche.
Eine Messung sollte so genau wie nötig aber so ungenau wie möglich sein, ebenso wie das Messgerät. Und für die Produktionsmanager gibt es die Methode des Lean Management. In der schlanken Produktion steckt die Mäßigung schon im Namen mit drin.
Es gibt allerdings auch Leute, die behaupten, dass „viel hilft viel“ ein guter Grundsatz für Ingenieurinnen und Ingenieure sei. Schon aus den bis hier genannten Gründen halte ich das für fragwürdig.
Eigentlich beinhaltet „so viel wie nötig, so wenig wie möglich“ auch einen Großteil des Nachhaltigkeits- bzw. Effizienzbestrebens. Für meine Produktion sollte ich diejenige Maschine auswählen, die so leistungsfähig wie nötig aber so klein wie möglich ist. Bei Pressen z. B. bezogen auf die Presskraft, bei Zerspanungsmaschinen könnte man auf die Spindelleistung und die Verfahrwege schauen. Da ich mir aber nicht für jedes Bauteil eine eigene Maschine anschaffen möchte, brauche ich in meinem Maschinenpark so viele unterschiedliche wie nötig, aber so wenig wie möglich.
Wenn ich auf die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen schaue, dann fällt mein Blick auf Ziel 12 „Nachhaltiger Konsum und Produktion“. Wenn man so manchen Onlinemarktplatz betritt, schein wieder „viel hilft viel“ vorzuherrschen. Eine Flut von Produkten in zig Varianten springen uns entgegen. Man bekommt den Eindruck, dass einige Produkte in großen Stückzahlen billig produziert werden, in der Hoffnung, dass sie schon jemand kaufen wird. Im Sinne der Nachhaltigkeit und damit auch der Mitwelt. Nur so viele Produkte wie nötig sollten hergestellt werden und so wenig, wie möglich.
Zum Schluss komme ich noch zu erfreulicheren Themen: Auch für wissenschaftliche Veröffentlichungen und technische Dokumentationen gilt der Grundsatz. Ein Laborprotokoll oder eine Bachelorthesis sollten so umfangreich wie nötig und so kurz wie möglich sein. Denkt immer daran: Irgendjemand muss das noch lesen; und wenn es nur die Prüfer:innen sind. Und auch für das Lernen vor Klausuren gilt: Lernet bitte so viel wie nötig, um die angestrebte Note zu erreichen, nicht so viel wie möglich.
Also was meint ihr: Sind die 8 Wörter ein Grundsatz für Ingenieur:innen? Gibt es weitere? Lasst es mich gerne wissen: per Mail unter info@fertigungstechnisch.hamburg oder als Kommentar bei Youtube oder über viele Sternchen bei der Podcastplattform Eures Vertrauens.
Ach, und übrigens: Im Roman „Der verlorene Horizont“ von James Hilton wird eine Gesellschaft beschrieben, deren Grundsatz die Mäßigung ist. Ein Shangri-La für Ingenier:innen?

 

geschrieben von Benjamin Remmers
eingesprochen von Benjamin Remmers